Wieder einmal war ein Bundesrat in China, dem bevorzugten Reiseziel unserer Landesregierung. Eine ganze Woche dauerte die Reise von Bundespräsident Ueli Maurer. Der Finanzminister nahm unter anderem am Gipfel zur «Neuen Seidenstrasse» teil. Höhepunkt war ein Staatsbesuch bei Präsident Xi Jinping am Montag, samt Unterzeichnung einer Absichtserklärung zur Seidenstrasse.
Die USA und die meisten grossen EU-Länder beurteilen das Gigaprojekt – in Wirklichkeit ein Netz aus Infrastrukturen und Transportwegen zu Land und zu Wasser – skeptisch. Sie betrachten es als Teil von Chinas Expansionsstrategie und gehen zunehmend auf Distanz zur aufstrebenden Wirtschaftsmacht. Von der Schweiz müssen die Machthaber in Peking keine Kritik befürchten.
Mit dem Staatsbesuch honorierten sie die «sehr guten bilateralen Beziehungen» zwischen der Schweiz und China, wie es in einer Mitteilung des Finanzdepartements heisst. Maurer sprach gar von einem «historischen Höhepunkt». In der Mitteilung erwähnt werden die bilateralen Dialoge der beiden Länder in rund 30 Bereichen, «unter anderem zum Thema Menschenrechte».
In diesem Bereich sieht es seit dem Amtsantritt von Xi Jinping 2012 immer düsterer aus. Der Bundesrat aber betreibt bei den Menschenrechten eine Politik des Wegduckens und Wegschauens. Ueli Maurer gab dies in Peking unfreiwillig zu. Er selbst könne gar nicht beurteilen, ob sich die Menschenrechtslage wirklich so stark verschlechtert habe, sagte er laut den Tamedia-Zeitungen.
Man kann ihn verstehen, ein Bundesrat hat viel um die Ohren. Wir geben Maurer gerne Nachhilfe, besonders was die Lage in Xinjiang betrifft. Dort sind in den letzten Jahren die Arbeits- und Umerziehungslager wie Pilze aus dem Boden geschossen. Maurer wollte sich laut Tamedia nicht dazu äussern, ob er sie gegenüber Xi Jinping angesprochen hat (vermutlich nicht).
Xinjiang ist die westlichste Provinz Chinas, mit rund 24 Millionen Einwohnern. Die Mehrheit besteht aus Uiguren, Kasachen und anderen muslimischen Volksgruppen, doch die Zahl der Han-Chinesen nimmt zu. Das führt zu Spannungen, die sich teilweise in gewalttätigen Ausschreitungen und terroristischen Anschlägen durch Extremisten entluden.
Die Regierung in Peking reagierte mit einer beispiellosen Repressionswelle. Sie machte Xinjiang zum «Versuchslabor für den chinesischen Überwachungsstaat», so die NZZ. Westliche Besucher und Journalisten dürfen die Region nur unter strengen Auflagen und mit Polizeieskorte bereisen, dennoch gelingen immer wieder ebenso beeindruckende wie bedrückende Berichte.
Dazu gehört eine Multimedia-Reportage der «New York Times» aus der alten Karawanenstadt Kaschgar im äusserten Westen, die man dem Bundespräsidenten ans Herz legen möchte. Sie trägt den bezeichnenden Titel «Wie China eine Stadt in ein Gefängnis verwandelt hat». Das ist nicht übertrieben: Das Leben in Kaschgar erinnert an den Vorhof der Hölle.
Die Stadt ist überzogen mit einem Netz von Überwachungskameras. Uiguren und andere Muslime müssen regelmässig Checkpoints passieren, in denen ihre Gesichter gescannt werden. Manchmal kontrolliert die Polizei, ob sie auf ihren Mobiltelefonen eine obligatorische Software installiert haben, die ihre Textnachrichten und Gespräche überwacht.
Die Altstadt von Kaschgar wurde und wird weitgehend platt gemacht. Das Gassengewirr wird durch breite Strassen ersetzt. Offiziell geht es um Sicherheit und Hygiene, in Wirklichkeit um eine bessere Überwachung. Ähnlich haben die Chinesen Lhasa «saniert», die Hauptstadt von Tibet. Ausserdem wurden in den letzten Jahren in ganz Xinjiang Umerziehungslager errichtet.
Die UNO ging letztes Jahr in einem Bericht von bis zu einer Million Menschen aus, die in solchen Lagern festgehalten würden. Weitere zwei Millionen müssten an politischen «Erziehungskursen» teilnehmen. China habe Xinjiang in eine Art riesiges Internierungslager verwandelt, das geheim gehalten werden solle. Tatsächlich leugnete Peking lange die Existenz dieser Einrichtungen.
Erst im letzten Herbst gab die Regierung aufgrund der Beweislast, darunter Luftaufnahmen, nach, bezeichnete die Arbeitslager jedoch als «Ausbildungszentren». Sie sollten radikalisierte Muslime vom Terrorismus fernhalten und in die Gesellschaft reintegrieren. Die Realität sieht wie immer anders aus. Manchmal genügt ein Bart oder der Besitz eines Korans für die Inhaftierung.
Diese Einschüchterung funktioniert. In den wenigen Moscheen, die in Kaschgar noch offen sind, erschienen beim Besuch der «New York Times» nur wenige Dutzend Menschen zum Freitagsgebet. Vor ein paar Jahren waren es noch Tausende. «Der Staat schützt normale religiöse Aktivitäten», heisst es in der chinesischen Verfassung. In Xinjiang können die Menschen wohl nur darüber lachen.
Öffentlich sollten sie es nicht tun, denn in der Provinz wimmelt es nicht nur von Kameras, sondern auch von Spitzeln. Die muslimischen Staaten, die dem Westen gerne Islamophobie vorwerfen, nehmen die Unterdrückung ihrer Glaubensbrüder und -schwestern in China weitgehend schweigend zur Kenntnis. Einzig die Türkei empörte sich im Februar über die «menschliche Tragödie» in Xinjiang.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch bezeichnete bei der Vorstellung ihres Jahresberichts das Vorgehen der chinesischen Regierung gegen die Uiguren als das «weltweit grösste vernachlässigte Problem». Muss uns das etwas angehen? Oder sollten wir nicht wie Ueli Maurer einfach die Augen vor der Menschenrechtslage verschliessen.
Vielleicht besser nicht. Die immer raffiniertere Software zur Gesichtserkennung wird inzwischen in ganz China eingesetzt, primär um Uiguren zu identifizieren. Es handelt sich um lupenreines Racial Profiling. Ausserdem exportiert China seine Überwachungstechnologie in andere Länder, nicht zuletzt im Rahmen der «Seidenstrassen»-Initiative. Beteiligt sind Firmen wie Huawei.
Es ist das erklärte Ziel Chinas, weltweit die Führung bei er Künstlichen Intelligenz zu übernehmen. Wo das hinführen könnte, kann man schon heute studieren, etwa in Xinjiang. Für den Bundesrat aber scheint das Geschäft wichtiger zu sein als die Moral. Es wäre ehrlicher, wenn Ueli Maurer zugeben würde, dass ihm die Menschenrechte egal sind. Aber das ist wohl nur Wunschdenken.