Fünf hochrangige Bundesbeamte und der Bundesratssprecher flankieren am Freitagnachmittag Bundesrat Ignazio Cassis an der Medienkonferenz. Trotz dieses Aufmarschs wird deutlich: Im Bundesrat ist das Interesse klein, sich für die Zukunft des bilateralen Wegs zu exponieren. Während bei anderer Gelegenheit hart gestritten wird, wer vor die Medien treten darf, überlässt man diese heisse Kartoffel gerne dem Aussenminister.
Dass auch ihm nicht wohl ist mit diesem Dossier, ist seit Jahren offensichtlich. Entsprechend verhalten ist sein Auftritt. Der Bundesrat habe das Mandat verabschiedet, nun sei «der Weg offen, Verhandlungen mit der EU aufzunehmen», sagt Cassis. «Der Bundesrat will damit die bilateralen Beziehungen mit der EU stabilisieren und weiterentwickeln.» In einer instabilen Welt mit Kriegen in der Ukraine und Gaza, mit Krisen auch in Nordafrika sei es «entscheidend, stabile Beziehungen mit den Nachbarn zu haben». Er liest das weitgehend vom Blatt ab.
Es ist ein Eiertanz: Nur bloss die Gegner einer institutionellen Annäherung an die EU nicht provozieren, all die Skeptiker nicht aufscheuchen! So wird denn nicht von der Liberalisierung des Strommarktes gesprochen, die nicht nur bei den Linken auf Ablehnung stösst, sondern bloss von einer «kontrollierten Öffnung». Das Gleiche bei der «kontrollierten Öffnung» des Bahnverkehrs. Die Botschaft ist klar: alles halb so wild!
Die Vorsicht geht so weit, dass nach dem Mandatsentwurf nun beide Seiten, Bern und Brüssel, das definitive Mandat veröffentlichen. Man wird also am Ende sehen können, wer sich wo und auf Kosten welcher Interessengruppe durchgesetzt hat. Cassis räumt ein, dies sei unüblich: «Wir machen das, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen.» Der Bundesrat stellt Chefunterhändler Patric Franzen und sein Team ins Glashaus – ihre Mission wird noch schwieriger, als sie sowieso ist.
In der Folge dreht sich die Pressekonferenz vorab um technische Fragen. Wo hat der Bundesrat Anregungen aus dem Parlament, von Verbänden, Gewerkschaften und Kantonen übernommen? Welche abgelehnt? Man habe einen Grossteil dieser Empfehlungen übernommen, heisst es im Communiqué.
Zwei Beispiele: Das Ziel, dass die Personenfreizügigkeit vorab der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt dient, wird im Mandat schärfer formuliert. Und der Taktfahrplan soll trotz kontrollierter Bahnliberalisierung «garantiert» werden. Nicht berücksichtigt wurde hingegen etwa die Forderung, beim Stromabkommen bloss schrittweise vorwärtszumachen, wie das im Parlament viele gewünscht haben. Das Stromabkommen gehört zum Paket, sagt der Bundesrat.
Vieles, was Cassis und seine Leute präsentieren, war erwartbar. Bei genauem Hinsehen findet sich im Mandat jedoch ein neuer Punkt, der es in sich hat. Eine technische Formulierung mit brisantem Inhalt: «Die Schweiz ist bestrebt, die Mechanismen des Freizügigkeitsabkommens zur Bewältigung unerwarteter Auswirkungen zu konkretisieren.» Das heisst, der Bundesrat will versuchen, bei der Personenfreizügigkeit eine Art Schutzklausel auszuhandeln, damit unter bestimmten Bedingungen die Zuwanderung beschränkt werden kann.
Auf eine entsprechende Frage verweist die zuständige Staatssekretärin Christine Schraner Burgener auf eine Bestimmung des Freizügigkeitsabkommens (FZA), die bereits jetzt diese Möglichkeit enthält, jedoch nur unter strengen Bedingungen. «Ja», sagt sie, das Instrument einer Schutzklausel sei eine der Möglichkeiten. «Auch das wird jetzt in den Verhandlungen diskutiert.»
Es ist eine spektakuläre Entwicklung. Und sie hat möglicherweise mehr mit einer neuen SVP-Initiative zu tun als mit den Bilateralen III. Denn wie Recherchen zeigen, wird die SVP noch innert Monatsfrist ihre sogenannte «Nachhaltigkeitsinitiative» einreichen, mit der die Partei eine 10-Millionen-Schweiz verhindern will.
Steigt die Bevölkerungszahl über 9,5 Millionen, muss der Bundesrat Massnahmen treffen, insbesondere im Asylbereich und beim Familiennachzug. So heisst es auf der Website der Initiative. Und überschreitet sie die Zahl von 10 Millionen, «muss der Bundesrat die bevölkerungstreibenden internationalen Verträge kündigen». Also die Personenfreizügigkeit, das FZA.
Gespräche mit involvierten Personen legen nahe: Die Offensive des Bundesrats für eine neue Schutzklausel könnte direkt mit der SVP-Initiative zusammenhängen. Manche sehen darin eine Chance, die Schutzklausel – die Rede ist auch von einer Ventilklausel – als Gegenvorschlag der «Nachhaltigkeitsinitiative» gegenüberzustellen. Erhält die Schweiz die Möglichkeit, eine übermässige Zuwanderung aus der EU zu beschränken, wäre das ein starkes Argument gegen das SVP-Volksbegehren.
Allerdings warnen diplomatische Kreise vor überzogenen Hoffnungen. Der Bund habe die Idee, diese Bestimmung im FZA griffiger zu formulieren, schon mehrfach eingebracht, jedoch in Brüssel damit auf Granit gebissen.
Doch ein Versuch scheint es dem Bundesrat wert zu sein. Er dürfte sich darin auch durch die Reaktionen auf seinen Entscheid zum Verhandlungsmandat bestärkt sehen. Denn diese fallen selbst ausserhalb der SVP mehrheitlich verhalten bis negativ aus. So sagt SP-Präsident Cédric Wermuth im Interview: «Das Paket im aktuellen Zustand zeigt den Leuten nicht auf, wie dadurch ihr Leben besser wird.» Unter anderem kritisiert er die Öffnung des Strom- und Bahnmarkts als «neoliberale Rosinenpickerei».
FDP-Präsident Thierry Burkart kündigt im Gespräch mit der «Schweiz am Wochenende» an, dass er die Entscheidfindung der Parteibasis überlassen wolle. Liege dereinst das Verhandlungsergebnis vor, solle ein Parteitag oder eine Delegiertenversammlung die Position bestimmen: «So wissen wir FDP-Vertreterinnen und Vertreter im Parlament, wie die Basis denkt.»
Immerhin die GLP unterstützt jede Annäherung an die EU. Und die Mitte-Partei hat diese Woche erklärt, sie befürworte rasche Verhandlungen. (aargauerzeitung.ch)