Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Impfstoffdebakels. Egal ob man die Zeitungen der Schweiz, Deutschland, Italien, Spanien oder Holland durchblättert, überall echauffiert man sich über die schleichende Impfkampagne im Land. Der Tenor ist überall gleich: Die Beschaffung von Impfstoffen ist gescheitert. Hinten und vorne fehlt es an Dosen, die meisten Länder sind weit hinter ihren täglichen Impfzielen.
Neidisch schaut man auf Länder wie Israel, die USA oder Grossbritannien, die scheinbar einfach besser verhandelt haben. In der Schweiz ist es sogar so weit gekommen, dass ein SVP-Vertreter die Verantwortliche für die Beschaffung der Impfstoffe, Nora Kronig, persönlich angriff.
Derweil betonen die Pharmafirmen immer wieder: First come, first serve. Doch wie sich herausstellt, ist es gar nicht so einfach, überhaupt einen Vertrag mit Impfstoffherstellern abzuschliessen.
Verträge setzen naturgemäss Verhandlungen voraus. Bestellvolumen, Preis pro Dosis, Lieferzeiten etc.: Die meisten Länder beschreiben den Verhandlungsprozess als lang und zäh. Das liegt jedoch nicht an den oben genannten Parametern, sondern an Haftungsfragen.
Wissen tut man dies nicht zuletzt wegen des argentinischen Gesundheitsministers Gines Gonzalez. Bei einer Pressekonferenz Anfang Februar, bei der erklärt werden sollte, wieso Argentinien die Verhandlungen mit Pfizer abgebrochen habe, platzte Gonzales der Kragen: «Pfizer hat sich sehr schlecht betragen», sagte er vor versammelte Medienentourage. Argentinien und andere lateinamerikanische Länder seien von Pfizer regelrecht gemobbt worden.
Wie ein Bericht des Bureau of Investigative Journalism aufzeigt, wollte Pfizer um jeden Preis die Verantwortung für etwaige Impfschäden an die Staaten abschieben. Pharmafirmen bekunden bereits seit längerem ein Interesse daran, die eigene Haftung auszuschliessen und sie stattdessen auf die Abnehmerstaaten abzuwälzen. Das heisst: Kommt es zu Impfschäden, steht dafür nicht das Pharmaunternehmen, sondern der Staat gerade. Und somit letztlich der Steuerzahler.
Der offizielle Grund ist folgender: In vielen Fällen sind unerwünschte Wirkungen so selten, dass sie in klinischen Studien nicht auftauchen und erst sichtbar werden, wenn Hunderttausende von Menschen den Impfstoff erhalten haben. Weil die Hersteller die Impfstoffe schnell entwickelt haben und weil sie jeden in der Gesellschaft schützen, erklären sich die Regierungen oft bereit, die Kosten für die Entschädigung zu übernehmen.
Im Falle von Argentinien uferten die Haftungsforderungen aber komplett aus. Zuerst soll Pfizer gefordert haben, nicht für eigene Handlungen der Fahrlässigkeit, des Betrugs oder der Böswilligkeit haftbar gemacht werden zu können. Obwohl dies noch nie zuvor gemacht worden war, verabschiedete der Kongress im Oktober ein neues Gesetz, das dies erlaubte.
Danach soll Pfizer gefordert haben, dass Argentinien eine internationale Versicherung abschliesst, um für mögliche Gerichtsfälle gegen Pfizer bezahlen zu können. Argentinien willigte wieder ein.
Den Vogel endgültig abgeschossen hat die letzte Forderung Pfizers: Das Pharmaunternehmen soll verlangt haben, dass staatliche Besitztümer als Sicherheit hinterlegt werden. Darunter fielen unter anderem staatliche Bankreserven, Botschaftsgebäude oder Militärbasen.
Zu viel für die argentinische Regierung: Sie brach die Verhandlungen ab. Und so wird in Argentinien weiterhin nur der russische Sputnik-V-Impfstoff gespritzt. Dabei war Argentinien ein Land, in dem Pfizer seinen Impfstoff an 6000 Freiwilligen testen konnte.
Andere Länder Südamerikas erheben ähnliche Vorwürfe. So hat auch Brasilien keinen Vertrag mit Pfizer, weil das Pharmaunternehmen staatliche Besitztümer als Sicherheit gefordert haben soll. Peru hat sich auf einen Deal eingelassen, moniert aber ebenfalls, unfair behandelt worden zu sein.
Pfizer dementiert die Vorwürfe. Gemäss dem US-Pharmariesen seien die Verhandlungen gescheitert, weil Argentinien nicht für den Transport der Vakzine aufkommen wollte. So oder so: Am Ende bleiben nur Verlierer. Argentinien, weil es keine Impfstoffe bekommt und Pfizer, weil es mit Imageschäden rechnen muss.
Doch was hat dies mit dem Dosenmangel in der Schweiz und dem Rest Europas zu tun?
Hier kommt wieder das Prinzip des first come, first serve ins Spiel. Sowohl die Europäische Union als auch die Schweiz haben erst gegen Ende 2020 Verträge mit Pfizer abgeschlossen. Zum Vergleich: Die USA haben sich bereits im Juli letzten Jahres 600 Millionen Dosen gesichert.
Die genauen Inhalte dieser Verträge sind geheim, im Interview mit watson liess Nora Kronig vom BAG jedoch durchblicken, dass es so lange dauerte bis zum Vertragsabschluss, weil auch über «Zulassungs- und Haftungsdimensionen» verhandelt werden musste.
Konkreter wurde der deutsche Europaabgeordnete Peter Liese. Gegenüber der Deutschen Welle sprach er Klartext: «Pfizer hat Druck ausgeübt auf die Europäische Kommission. Das, was in Europa Recht und Gesetz ist, nämlich dass wenn man einen Fehler macht und jemand dadurch zu Schaden kommt, dafür auch eine Haftung zu übernehmen, wollte Pfizer offensichtlich zunächst nicht akzeptieren.»
Die EU wollte ihrerseits die Haftungsforderungen von Pfizer nicht akzeptieren, und so zog sich die Verhandlung in die Länge. Nochmals Liese: «Die Verantwortlichen von Pfizer haben nicht ausreichend den Vorwurf entkräftet, dass bei ihnen Profit über Gesundheit steht.»
So ganz klar ist die Haftungsfrage auch heute noch nicht, denn wie bereits erwähnt: Die Verträge sind geheim. Eine Veröffentlichung würde die Verhandlungsposition des Bundes gegenüber anderen Staaten und Impfherstellern schwächen, so das Argument.
Prinzipiell ist ein Unternehmen in der Schweiz bei allfälligen Impfschäden einklagbar und im Falle einer Verurteilung auch haftbar. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Schweiz und andere Staaten die Impfstoffhersteller für allfällige Strafen entschädigen.
«Für die meisten Länder ist es akzeptabel, dieses Risiko auf ihre Schultern zu nehmen, denn es ist in ihrem nationalen Interesse», sagte AstraZeneca-Geschäftsleitungsmitglied Ruud Dobber gegenüber 20 Minuten.
Ob sie nun vereinbart wurden oder nicht: Ausnahmen von der Haftung stellen einen Präzedenzfall dar. Bei einer zukünftigen Pandemie könnten Pharmafirmen erneut auf Zugeständnisse pochen. Ausserdem verzerrt es den Markt, wenn der Steuerzahler solche Risiken übernimmt.
In gewisser Weise könnte man den europäischen Impfstoffmangel also als Akt der Verteidigung des Rechtsstaates sehen. Auch wenn dies bedeutet, dass wir nicht so schnell geimpft werden wie unsere Freunde in Israel oder Grossbritannien.
Dann ist es aber höchste Zeit, dass Patent aufzulösen oder?
Wenn weder Haftung noch die Absicherung der Zahlung auf Seite Pfizer liegt...