Eine Angst geht um in Europa - die Angst vor einem Krieg auf europäischem Boden. Befürchtet wird eine Invasion russischer Truppen auf das Staatsgebiet der Ukraine. Russlands Staatspräsident Wladimir Putin hat rund 120'000 Militärangehörige ins russisch-ukrainische Grenzgebiet beordert. Auch Putins Verbündeter, der weissrussische Diktator Alexander Lukaschenko, hat Soldaten an die Grenze zur Ukraine verlegt. Vom 10. bis zum 20. Februar planen die beiden Länder ein gemeinsames Militärmanöver. Die ukrainische Führung fürchtet einen Klammerangriff von Norden und Osten her.
Gleichzeitig haben die Nato-Staaten zusätzliche Kampfflugzeuge in die östlichen Mitgliedsländer der Allianz entsandt. Nato-Kriegsschiffe sind auf dem Weg ins Schwarze Meer. Die USA haben bis zu 8500 Truppenangehörige in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, die jederzeit in die Region verlegt werden können.
Steht Europa kurz vor einem Krieg? Und droht sich dieser Konflikt zu einem unkontrollierbaren Flächenbrand auszuweiten? Schweizer Topdiplomaten mit langjähriger Konfliktvermittlungserfahrung in der Region und guten Kontakten sowohl nach Russland als auch in die Ukraine halten ein solches Szenario derzeit für eher unwahrscheinlich.
«Ich erwarte keine militärische Invasion Russlands in die Ukraine», sagt etwa Yves Rossier. Der ehemalige Staatssekretär im Aussendepartement EDA war von 2017 bis 2020 Botschafter in Moskau. Ungeachtet des grossen Truppenzusammenzugs deuteten die technisch-militärischen Vorbereitungen an der Grenze «nicht auf eine Invasion hin», ist Rossier überzeugt. Eine solche müsste zudem auch propagandistisch vorbereitet werden: «Dafür sehe ich in den russischen Medien keine Anzeichen.»
Ähnlich tönt es bei Thomas Greminger, der von 2017 bis 2020 Generalsekretär der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) war und heute das Geneva Center for Security Policy (GCSP) leitet:
In der Öffentlichkeit seien derzeit relativ aggressive Wortmeldungen zu vernehmen, das sei der bewusst öffentlich wahrnehmbar gemachte Teil der Diplomatie: «Da ist aber viel rhetorische Kraftmeierei dabei», so der 61-jährige Diplomat, der es in der Schweizer Armee zum Oberstleutnant im Generalstab brachte.
Zwar könne eine bewusst provokative oder eine als Provokation empfundene Handlung eine Eskalation auslösen: «Aber keine Seite, auch Russland nicht, hat derzeit die strategische Absicht, einen bewaffneten Konflikt herbeizuführen.»
Für Greminger zeigt sich an den Spannungen «ein fundamentales Dilemma der europäischen Sicherheitspolitik». Diese fusse einerseits auf dem Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Staaten. Es stehe grundsätzlich allen Ländern frei, sich einer militärischen Allianz ihrer Wahl anzuschliessen.
Doch sollte sich beispielsweise die Ukraine für einen Nato-Beitritt entscheiden, so könnte ein solcher Schritt einem anderen Grundsatz widersprechen: jenem der «Unteilbarkeit von Sicherheit». Dieser besage, dass der Zuwachs von Sicherheit für einen Staat nicht die Sicherheit eines anderen vermindern dürfe. Doch genau dies könnte aus russischer Sicht im Fall eines Nato-Beitritts der Ukraine passieren.
Auch wenn weder Rossier noch Greminger mit einem Krieg rechnen, so ist die Lage doch vertrackt. Kann die Schweiz dazu beitragen, die Spannungen abzubauen? Und wie könnte eine solche Rolle aussehen?
Für Yves Rossier, den ehemaligen Botschafter in Moskau, spielt die Schweiz zurzeit «eine sehr positive Rolle als Gastgeberin». Dies habe sich etwa vorletzte Woche beim Treffen des US-Aussenministers Anthony Blinken mit seinem russischen Amtskollegen in Genf gezeigt. «Unser Land gilt als zuverlässig, unparteiisch und unabhängig und wird deshalb als Standort für hochrangige Gespräche geschätzt.» Auch Thomas Greminger betont die Wichtigkeit der Schweiz und insbesondere Genfs:
Dieses habe sich nun als Standort des strategischen Stabilisierungsdialogs zwischen den USA und Russland etabliert, der zur Beilegung der Ukrainekrise zentral sei. Diese Ortswahl komme nicht von ungefähr: «Sie ist Ausdruck der Wertschätzung der Professionalität und Kompetenz der Schweiz und ihrer Diplomatie.»
Doch über die Gastgeberrolle hinaus sehen weder Greminger noch Rossier viele Handlungsmöglichkeiten für die Schweiz. Zwischen den USA und Russland funktioniere der Dialog weiterhin, «da braucht es keine Vermittlung», meint Rossier. Und für Greminger steht eine inhaltliche Vermittlungstätigkeit auf höchster Ebene ausserhalb der aussenpolitischen Gewichtsklasse der Schweiz: «It's a big boys' game», sagt er in Englisch.
2014 war das anders. Damals spielte die Schweiz eine aussergewöhnlich wichtige Rolle in der Ukraine. Vor acht Jahren erreichten die Spannungen zwischen Ukraine und Russland bereits einmal einen Höhepunkt. Russland besetzte die Halbinsel Krim im Februar 2014 militärisch und erklärte sie nach einem international nicht anerkannten Referendum im März zum eigenen Staatsgebiet. Parallel dazu wuchsen die Spannungen im Osten des Landes. Dort begann ein bewaffneter Aufstand von durch Russland unterstützten Milizen. Im Mai 2014 erklärten sich die separatistischen «Volksrepubliken» von Lugansk und Donezk nach Referenden ebenfalls für unabhängig. Die Kämpfe zwischen der ukrainischen Armee sowie proukrainischen und prorussischen Milizen eskalierten weiter.
Sowohl im Krimkonflikt als auch in der Ostukraine war die OSZE vermittelnd tätig. 2014 hatte die Schweiz den OSZE-Vorsitz inne, in der Person des damaligen Aussenministers und Bundespräsidenten Didier Burkhalter (FDP). Im Mai 2014 reiste er nach Moskau, um Wladimir Putin von einem Waffenstillstand zu überzeugen.
Eine weitere Reihe von Schweizer Persönlichkeiten spielte eine wichtige Rolle, darunter der damalige Staatssekretär Yves Rossier als Nummer zwei im EDA und Thomas Greminger, der als Botschafter der Schweiz bei der OSZE deren ständigen Rat präsidierte. Die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini wurde im Juni 2014 zur OSZE-Sondergesandten für die Ukraine ernannt. Sie spielte eine massgebliche Rolle bei der Unterzeichnung des Minsker Abkommens, welche in der Ostukraine einen fragilen Frieden ermöglichte. Die Nachrichtenagentur Bloomberg nannte sie die «stille Heldin» der Verhandlungen.
Diese herausragende Rolle spielt die Schweiz heute nicht mehr. 2014 sei ein «historischer Zufall» gewesen, «den der Bund zu nutzen wusste», sagt der Neuenburger FDP-Nationalrat Damien Cottier, damals persönlicher Mitarbeiter von Aussenminister Didier Burkhalter. Die Doppelrolle als OSZE-Vorsitzender und Bundespräsident habe Burkhalter den Zugang auf höchster Ebene ermöglicht, etwa zu Angela Merkel, François Hollande, Wladimir Putin oder dem damaligen US-Vizepräsidenten Joe Biden. Dies habe dem Land eine ausserordentliche Rolle verschafft:
Dass die Schweiz dieses Jahr nicht den OSZE-Vorsitz innehat, ist nicht ihr Verschulden. Doch in den letzten Jahren hat sie wichtige Spitzenposten innerhalb der Organisation eingebüsst. «In einer Organisation mit 57 Mitgliedsstaaten kann die Schweiz nicht immer an der Spitze stehen», kontert Anna Ifkovits, Abteilungsleiterin Eurasien im Aussendepartement EDA. Die Eidgenossenschaft pflege weiterhin gute Kontakte sowohl zu Russland und der Ukraine. Nicht zuletzt dank der breit anerkannten Arbeit in der OSZE habe die Schweiz eine Position, «in der wir nötigenfalls und wenn gewünscht zwischen beiden Seiten vermitteln können».
Auch der ehemalige OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger will die verlorenen Spitzenposten nicht überbewerten: «Man darf sich keine Illusionen über die Einflussmöglichkeiten von Einzelpersonen machen.» Doch wenn eine «positive Dynamik» herrsche und die Konfliktparteien guten Willen zeigten, helfe es, Vertreter in zentralen Posten zu haben: «Das Insiderwissen, die informellen Kontakte, die durch eigene Spitzenfunktionäre entstehen, stärken die Rolle der Schweiz als Vermittlerin.» Deshalb würde es Greminger begrüssen, wenn die Schweiz mittelfristig wieder mehr Spitzenpersonal stellt. (bzbasel.ch)
Na das hat ja gut geklappt.
https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91588938/ukraine-krise-wie-praesident-selenskyj-den-westen-irritiert.html