Soll die Ukraine Gebiete an Putin abtreten? Wer dafür ist – und wer dagegen
Drei Monate Krieg genügen. Es sei an der Zeit für die Ukraine, die Segel zu streichen, Teilgebiete aufzugeben und Putin ein Friedensangebot zu unterbreiten. Diese Haltung erhält im Westen gerade wachsenden Zuspruch.
Am Weltwirtschaftsforum in Davos hat der ehemalige US-Aussenminister, der bereits 99-jährige Henry Kissinger, die Ukraine zu Gebietszugeständnissen an Russland aufgefordert. Die Grenzlinie müsse sich «idealerweise am Status quo ante» orientieren, sagte er. Beobachter sind sich einig, er meinte damit den Zustand vor der Invasion Russlands am 24. Februar, als die Krim unter russischer Herrschaft stand und Teile des Donbass es faktisch ebenso waren.
«Appeasement», rufen die Gegner, Nazi-Vergleiche werden hervorgeholt. Mache man Putin jetzt Zugeständnisse, dann werde sich das rächen wie einst im Zweiten Weltkrieg, so die Sorge. Dabei sprach Kissinger nur aus, was viele schon seit Wochen von der Ukraine fordern: einen Schritt zurückweichen und Konzessionen eingehen zu Gunsten eines Waffenstillstands und Friedensverhandlungen.
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Nun, drei Monate nach Kriegsbeginn, werden in den USA und Europa erste Zeichen einer Kriegsmüdigkeit manifest. Steigende Preise bereiten grosse Sorgen. Wirtschaftskapitäne, Politiker und andere Meinungsführer sehnen sich nach Stabilität, sei sie auch nur von oberflächlicher und kurzer Dauer. Da kam Kissinger mit seiner Forderung gerade recht.
Die «Kissinger-Schule»: Ein Opfer erbringen und so den Flächenbrand verhindern
Die deutschen Intellektuellen
Der erste prominente dieser Rufer war der populäre Philosoph Richard David Precht. Zu Beginn des Krieges noch ein einsamer Befürworter einer raschen Kapitulation der Ukraine, wurde er später laut eigenen Angaben von der Wehrkraft des überfallenen Landes überrascht und relativierte seine Meinung.
Wenig später war es der offene Brief von Intellektuellen und prominenten Kunstschaffenden, initiiert von der deutschen Pionierin des Feminismus, Alice Schwarzer. Ihr Schreiben - zu den Unterzeichnenden gehörten Schauspieler wie Lars Eidinger und Schriftstellerinnen wie Juli Zeh - richtete sich an den deutschen Kanzler Olaf Scholz und verlangte einen Stopp von Waffenlieferungen aus Angst vor einem Dritten Weltkrieg.
Schwarzer doppelte später nach: Sowohl bei Putin als auch beim ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj sei toxische Männlichkeit einer der Antreiber für den Krieg.
Die «New York Times»
Schon Tage vor Kissingers Wortmeldung hielt die amerikanische Meinungsführerin «New York Times» in einem Artikel, der die Haltung der Redaktion widerspiegelt, fest:
Russland sei nach wie vor zu stark, und Putin habe «zu viel persönliches Prestige» in die Invasion investiert, um sich jetzt noch zurückziehen zu können. Die Zeitung folgerte: «Sollte der Konflikt zu echten Verhandlungen führen, müssen die ukrainischen Führer die schmerzhaften territorialen Entscheidungen treffen, die jeder Kompromiss erfordern wird.» Sprich: Die Ukraine muss sich von Territorien lösen.
Politiker mit einem Draht zu Putin
Es war der angesehene Ministerpräsident Italiens, Mario Draghi, der zuletzt Hoffnung in das Gespräch mit Wladimir Putin legte. Draghi rief Putin an und bat ihn um Freigabe der blockierten Weizenvorräte, um die Hungerkrise, die bereits in Teilen der Welt herrscht, zu lindern. Dankbar nahm Putin die Bitte des italienischen Politikers auf und stellte den Export von Weizen über die von Russland besetzten ukrainischen Schwarzmeer-Häfen in Aussicht, sofern die westlichen Sanktionen gegen sein Land gelockert würden.
Draghi eine Nähe zu Putin zu unterstellen, führte etwas weit. Der Italiener muss sich wegen seines Anrufs aber den Vorwurf gefallen lassen, dass er in Putins Falle tappte.
Fast schon legendär ist dafür die Russland-Nähe gewisser deutscher Politiker und Politikerinnen. Unter ihnen auffallend viele Exponenten der Rechtspartei AfD und der links von der SPD stehenden Partei Die Linke. Stellvertretend dafür: Sahra Wagenknecht.
In einem aktuellen Gastbeitrag in der Zeitung «Welt» spricht sich die Politikerin vehement für Zugeständnisse der ukrainischen Führung aus, um Putin an den Verhandlungstisch zu holen. Wagenknecht bezieht sich dabei auf die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Deren Haltung sieht die Politikerin insbesondere von den Regierungsparteien und von den deutschen Parteien generell ganz schlecht vertreten.
Wagenknecht schreibt, die Parteien hätten die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler vergessen. Die meisten würden die durch den Krieg verursachten steigende Kosten und Unsicherheit nicht lange mittragen. Man könne deshalb davon ausgehen, «dass die meisten Deutschen einen schnellen Waffenstillstand um den Preis von Kompromissen einem langen Krieg mit ungewissem Ausgang vorziehen würden».
In der Schweiz
Der SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel bedankt sich für das Argument Kissingers und sieht sich bestärkt. Köppel fordert schon lange, man solle Putin nicht dämonisieren. «Ich bin sehr froh um diese mahnenden Worte von Kissinger und ich teile seine Einschätzung, die sich wohltuend abhebt vom Eskalationsvokabular auf den Podien und in den Zeitungen. Ich ziehe diese Realpolitik der verbreiteten Illusionspolitik vor», so Köppel in seinem letzten Videokommentar.
Die Anti-Putin-Fraktion: Kein Stückchen Land für den Aggressor im Kreml
Die Ukrainer
Im Land, für dessen Teilung Kissinger wirbt, kam der Vorstoss überhaupt nicht gut an. Ukrainisches Gebiet an Putin abtreten? Niemals, tönt es aus Kiew rigoros. Präsident Wolodimir Selenskyj fand drastische Worte: «Kissinger kommt aus der tiefen Vergangenheit und schlägt vor, ein Teil der Ukraine sollte an Russland abgetreten werden». Es scheine so, meinte Selenskyj, «als sei es in Kissingers Kalender nicht 2022 sondern 1938 und dass er glaubt, er spreche nicht in Davos, sondern in München.»
Selenskyj bezog sich dabei auf das Münchner Abkommen, das bestimmte, dass die Tschechoslowakei Teile ihres Staatsgebiets an Adolf Hitler abtreten muss.
Die Parlamentarierin Inna Soysun nannte Kissingers Vorschlag «wahrhaft beschämend». Und der für seine Direktheit bekannte ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, höhnte: «Kissinger sollte lieber Skat spielen.» Auf Twitter wies er darauf hin, dass der ehemalige US-Aussenminister geopolitisch schon immer falsch gelegen hatte: «Dieser Realpolitiker sagte 1988, Kalifornien würde eher unabhängig als die Ukraine.» Niemand brauche seine «megazynischen Ratschläge».
Auch eine grosse Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer sagt ganz klar Nein. Laut einer aktuellen Umfrage des Kiewer International Institute of Sociology sind acht von zehn Menschen in der Ukraine nicht bereit, Land aufzugeben - selbst wenn das bedeutet, dass der Krieg noch länger andauert.
Die Balten
Die baltischen Staaten warnen seit Jahren vor Putin. Und sie warnen besonders drastisch seit dessen Einmarsch in die Ukraine vor gut drei Monaten. Stellvertretend für deren harte Haltung steht Estlands Premierministerin Kaja Kallas. Sie fordert: Keine Verhandlungen mit Putin, keine Telefonate - und schon gar keine Gebietsgewinne. Sie sagt:
Die Kreml-Kritiker
Wer Erfahrung mit Putin hat, warnt vor jedem Millimeter, den blauäugige Politiker im Westen dem Kremlchef entgegenkommen wollen. So auch die Kreml-kritische russische Prominenz, die Putins Reich längst verlassen hat. Einer der eloquentesten von ihnen ist Garry Kasparov.
Der ehemalige Schachweltmeister geht mit jenen, die Putin Zugeständnisse machen wollen, hart ins Gericht: «Die Profiteure und Beschwichtiger, die wie Kissinger mit oder für Putin arbeiten, schliessen sich den falschen ‹Friedensstiftern› in Frankreich und Italien an, um mehr Ukrainer in die Hölle der russischen Besatzung zu schicken», schreibt er auf Twitter. «Dutzende von Butschas werden noch kommen. Wer sind sie, dass sie den Ukrainern sagen, wie sie leben und sterben sollen?»
Schweizer Kritiker
Der Journalist Markus Somm - sonst häufiger auf Seiten von Roger Köppel - hat kein Verständnis für jene, die Putins Aggression mit Gebietsgewinnen honorieren wollen. Ein Aggressor lasse sich nicht besänftigen, indem man ihn belohnt. «Putin schlösse Frieden, um Zeit zu gewinnen», so Somm. «In vier, fünf Jahren sackt er die ganze Ukraine ein.» (aargauerzeitung.ch)