Schweiz
Interview

Nidwaldner Bildungsdirektor zu Schulreform, Diktaten und Frontalunterricht

Res Schmid Bildungsdirektor Nidwalden, SVP
Der dienstälteste Bildungsdirektor: Der Nidwaldner Regierungsrat Res Schmid (SVP).Bild: CHMedia/ Manuela Jans-Koch
Interview

Nidwaldner Bildungsdirektor rechnet mit Reformen ab: «Zeitgeist hat die Schule erfasst»

Die Fremdsprachenstrategie? Gescheitert. Noten abschaffen? Ein Holzweg. Die integrative Schule? Förderklassen sind besser. Der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid rechnet ein Jahr vor seinem Rücktritt mit den Schulreformen ab. Sie seien vom Zeitgeist getrieben.
02.06.2025, 20:5802.06.2025, 20:58
Kari Kälin / ch media
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Früher testete Res Schmid Kampfjets der Schweizer Luftwaffe. Heute ist der 67-jährige Nidwaldner Regierungsrat bekannt dafür, Schulreformen unverblümt zu kritisieren. In seinem jüngsten Zwischenruf fordert der dienstälteste Bildungsdirektor der Schweiz, den Englischunterricht an der Primarschule zu streichen und ab der 5. Klasse mit Französisch zu beginnen. In seinem Büro in Stans mit Blick auf den verschneiten Brisen erklärt der SVP-Politiker CH Media seine bildungspolitischen Positionen.

Wie haben Sie Englisch gelernt?
Res Schmid:Erst an der Sekundarschule. Ich absolvierte später eine Ausbildung zum Militär-/Testpiloten und auch Linienpiloten. Dabei habe ich meine Englischkenntnisse vertieft. Wegen meines Berufs lebte ich drei Jahre in den USA.

Res Schmid am Tag der offenen Tür Luzern Emmen, 2001 ( Bildungsdirektor Nidwalden, SVP)
Tag der offenen Tür am 9. Juni 2001 im luzernischen Emmen: Testpilot Res Schmid macht Ausführungen zu einem F/A-18-Kampfjet der Schweizer Armee.Bild: CHMedia/Michael Würtenberg

Warum sollen Schweizer Kinder an der Primarschule kein Englisch mehr lernen?
Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) verabschiedete vor 20 Jahren die Sprachenstrategie im Glauben, frühzeitiger Fremdsprachenunterricht führe zu besseren Lernerfolgen. Dies hat sich nicht bewahrheitet. Im Schulunterricht findet kein echtes Sprachbad statt. Zwei Fremdsprachen überfordern viele Kinder. Ernüchternd sind auch die Französischkenntnisse. Gemäss einer aktuellen EDK-Erhebung erreicht nur etwa die Hälfte der Jugendlichen die Mindestanforderungen.

Was bringt es, Englisch aus der Primarschule zu verbannen?
Es bleibt mehr Zeit für Deutsch und Mathematik. Das ist dringend nötig, denn in Pisa-Tests schneiden die Schweizer Jugendlichen insbesondere im Fach Deutsch immer schlechter ab. Zudem kommen die Kinder durch Medien oder Musik ohnehin quasi beiläufig mit Englisch in Kontakt. Diese Sprache erlernt man leichter als Französisch. Es macht Sinn, der schwierigeren Sprache mehr Zeit zu widmen.

Ist es ein Drama, wenn ein Nidwaldner und eine Genferin auf Englisch sprechen?
Französisch fördert den nationalen Zusammenhalt. Diese Sprache hat für unsere Identität einen anderen Stellenwert als Englisch. Wenn Schweizer sich im eigenen Land nicht mehr in einer Landessprache unterhalten können, haben wir ein ernstes Problem. An den EDK-Sitzungen spreche ich immer Französisch, wenn ich mich an die Amtskollegen aus der Romandie wende. Oft werden bei nationalen Themen in den Medien mehrere Landessprachen gesprochen. Schauen Sie nach Blatten. Die Behörden und Politiker informieren auf Deutsch und Französisch über die Naturkatastrophe.

Im Kanton Nidwalden gibt es viele international ausgerichtete Firmen. Gab es Kritik für Ihren Vorschlag, Englisch auf die Oberstufe zu verschieben?
Ich verstehe, dass sich die Wirtschaft für das Englisch einsetzt. Gute Englischkenntnisse entstehen aber nicht durch Frühförderung, sondern fundiertes, intensives Lernen. Nach drei Jahren Unterricht an der Oberstufe lassen sich die Ausbildungsziele problemlos erreichen.

Wie kann der Fremdsprachenunterricht verbessert werden?
Der wichtigste Aspekt ist: Wir müssen uns an der Primarschule auf eine Fremdsprache konzentrieren. Dann bleibt mehr Zeit für vertiefte Übung und Repetition. Auch der Sprachaustausch sollte intensiviert werden. In Nidwalden funktioniert das sehr gut, kein anderer Kanton hat mehr Austausch als wir. Unsere Kinder können bis zu zwei Wochen lang im Unterwallis die Schule besuchen und bei einer Familie wohnen – und umgekehrt. Die Rückmeldungen der Schüler sind durchs Band positiv. Die Motivation steigt, der Austausch wirkt wie ein Türöffner für eine neue Sprache und Kultur.

Haben Sie in der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren Verbündete für Ihre Position?
Hinter vorgehaltener Hand unterstützen mich einige. Viele haben erkannt, dass die Sprachenstrategie gescheitert ist. Aber nicht alle Politiker haben den Mut, dies öffentlich einzugestehen. Immerhin wird sie in der EDK auf meinen Antrag hin einer Prüfung unterzogen.

Sie sind mit 15 Amtsjahren der erfahrenste Bildungsdirektor der Schweiz. Welche erfreulichen Entwicklungen gab es in dieser Zeit an der Volksschule?
Die Lichtblicke sind die engagierten Lehrpersonen, motivierte Schüler und Eltern, die mitziehen. Das Volk weiss, wie wichtig eine gute Bildung als Basis für unseren Wohlstand ist. Und schon lange arbeite ich gut zusammen mit Lehrpersonen, Schulbehörden und Schulleitungen. In den ersten Jahren jedoch stiess ich als SVP-Politiker auf Widerstand.

Was läuft schief?
Viel. Zu viel integrative Schule, die Abschaffung der Noten, unklare Anforderungen, das unsägliche lautgetreue Schreiben, zu wenig geführter Unterricht, seit Jahren sinkende Ergebnisse bei der Pisa-Studie, Lehrpersonen, die von der Schulleitung zu wenig entlastet werden, ideologisch gefärbte Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule …

Macht Ihnen Ihr Job eigentlich Freude?
Ja, die Bildung war mein Wunschdepartement und es geht um die Zukunft unserer Kinder. Eine Gesellschaft ist nur so erfolgreich und gut wie ihr Bildungssystem. Dem müssen wir vermehrt Rechnung tragen.

Ihre oben genannten Themen können wir in diesem Interview nicht alle abarbeiten. Nur ein Punkt: Bei der integrativen Schule geht es unter anderem um Chancengleichheit, also darum, dass schwächere Kinder nicht den Stempel eines Förderschülers tragen. Was ist daran falsch?
Ich stelle nicht in Abrede, dass die integrative Schule bis zu einem gewissen Grad funktioniert. Wenn aber zu viele Kinder mit starken Lernschwächen oder Verhaltensauffälligkeiten in der Regelklasse sind und die Lehrpersonen dabei überfordert werden, ist eine rote Linie überschritten. Es ist effizienter, diese Kinder einige Wochen oder Monate lang in speziellen Förderklassen zu unterrichten. Sie können danach wieder in die Regelklasse wechseln. Im Zeugnis gäbe es keinen Vermerk «Förderklasse».

Lehrerorganisationen monieren, es fehle an genügend Ressourcen. Müsste man den Hebel nicht dort ansetzen?
Nein. Der Unterricht in der Regelklasse leidet zu stark. Es bringt nichts, noch mehr Geld in ein dysfunktionales System zu pumpen. Mir schwebt vor, dass schulische Heilpädagogen vermehrt Förderklassen führen, anstatt ausschliesslich Einsätze in der Regelklasse zu leisten. Drei Nidwaldner Gemeinden praktizieren dieses System bereits mit Erfolg.

Res Schmid Bildungsdirektor Nidwalden, SVP
Res Schmid während des Gesprächs mit CH Media.Bild: CHMedia/ Manuela Jans-Koch

Worauf stützen Sie Ihre Einschätzungen zur Volksschule?
Auf 15 Jahre Erfahrung, viele Gespräche mit Lehrpersonen, Eltern, Schulleitungen. Ich besuche jährlich alle Schulgemeinden, um mir ein umfassendes Bild von der Front zu verschaffen. Das Vertrauen in die Schule sinkt – nicht wegen schlechter Lehrpersonen, sondern wegen eines Systems, das zu viel auf einmal will.

Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Der Zeitgeist hat die Schule erfasst. Jede pädagogische Reform wurde ohne Blick auf die Langzeitwirkung eingeführt. Die bürgerlichen Parteien tragen dafür eine grosse Verantwortung. Im Bildungsbereich haben sie das Feld in den letzten 40 Jahren auf allen Staatsebenen zu einem grossen Teil den Linken überlassen. Entsprechend einseitig wurde die Bildungspolitik geprägt.

Wollen Sie das bildungspolitische Rad der Zeit zurückdrehen?
Nein, aber ich will das Rad wieder richtig zum Laufen bringen. Ich bin kein Nostalgiker, sondern ein Realist. Ich wehre mich dagegen, bewährte Methoden modernen Trends zu opfern. Ein Beispiel: Mit Frontalunterricht durch engagierte Lehrpersonen werden mindestens gleich gute Resultate erzielt wie beim selbst organisierten Lernen, das viele Kinder überfordert.

Haben Sie sich von den Nidwaldner Lehrpersonen entfremdet? Die kantonalen Schulverbände warfen Ihnen vor, Sie seien ein Mann der alten Schule, nachdem Sie in der NZZ die aktuelle Bildungspolitik kritisiert hatten.
Im Gegenteil. Viele haben mir geschrieben und meine Haltung begrüsst. Ich bekam nicht nur national, sondern auch international viele positive Rückmeldungen. Sogar ein emeritierter Pädagogik-Professor aus Deutschland hat mich unterstützt mit dem Tenor: «Endlich sagt's mal einer.»

Ihr Walliser Amtskollege, EDK-Präsident Christophe Darbellay (Mitte), will wieder mehr Diktate üben, weil die Romands so viele Fehler machen. Es würde uns überraschen, wenn Sie nicht seiner Meinung wären …
… natürlich hat er recht. Ich ermuntere alle Lehrpersonen immer wieder, Fehler zu korrigieren und Diktate durchzuführen. Rechtschreibung ist wichtig. Oft wird bei Stellenbewerbungen ein handschriftlicher Beitrag verlangt.

Was haben Sie als Bildungsdirektor erreicht?
Zum Beispiel, dass die Nidwaldner wieder ab der 3. anstatt der 5. Klasse benotet werden. Im Stundenplan haben wir die Zahl der Deutsch- und Mathematiklektionen erhöht. Wir haben das Einschulungsalter um vier Monate verschoben, damit die Kinder beim Kindergarteneinritt und beim Schulaustritt entsprechende älter sind. Das hat sich sehr bewährt. Auf einer allgemeinen Ebene ist es mir gelungen, gegen den nationalen bildungspolitischen Mainstream anzukämpfen und den Mut für Korrekturen aufzubringen. Am Anfang wurde ich dafür hart angegangen. Ohne dickes Fell wäre ich eingeknickt.

Zum Abschluss: Welche Schulreform würden Sie dringend machen?
Alle fremdsprachigen Schüler – egal, ob es der Sohn des amerikanischen Ingenieurs bei den Pilatuswerken oder die Tochter des eritreischen Flüchtlings ist – sollten das Niveau A2 erreichen, bevor sie eine Regelklasse besuchen. Zu diesem Zweck sollten wir flächendeckend Integrationsklassen einführen. Dieses Modell ist im Kanton Nidwalden angedacht.

Das kostet Geld.
Ja. Aber diese Investition lohnt sich. Ich hoffe, mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin kann meine Vorarbeiten in die Tat umsetzen. Ich trete per Ende Juni 2026 nach vier Legislaturen als Regierungsrat zurück – und freue mich auf mehr Zeit mit der Familie, vor allem meinem Enkelkind.

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71 Kommentare
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Neruda
02.06.2025 22:22registriert September 2016
Bin zwar mit einigen seiner Reformen einverstanden, aber wenn die Finnen im Pisa-Test dauernd besser abschliessen als wir, dann kann das nicht an den fehlenden Noten liegen. Die geben nämlich bis zur Oberstufe keine 😉
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chris-swiss
02.06.2025 22:44registriert November 2022
"Oft wird bei Stellenbewerbungen ein handschriftlicher Beitrag verlangt."

Es muss lange her sein, seit sich dieser Mann auf eine Stelle beworben hat. ;-)
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redeye70
03.06.2025 06:32registriert Mai 2016
Die Kommentarspalte verdeutlicht wie stark ideologisiert diese Thema ist. Dabei wäre zuhören doch wichtig, auch wenn der Mann von der SVP ist. Ich kenne persönlich Pädagogen, dies sind ganz bestimmt nicht SVP, und sehen auch die Fehlentwicklungen des Systems. Besonders die PHZ scheint sehr ideologisch getrieben, man gilt schnell als Abweichler inkl. Krisensitzung. Wäre doch schön wenn man offen darüber diskutieren könnte und ggf. auch Korrekturen anbringen würde. Liest man einige der Kommentare hier sieht man wie verhärtet die Fronten und die Feindbilder schon verankert sind.
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