Herr Berset, manipulieren Sie und Ihr Amt die AHV-Zahlen? Parteikollege und Gewerkschaftschef Pierre-Yves Maillard wirft Ihnen das in mehreren Interviews vor.
Alain Berset: Nein, selbstverständlich nicht. Wir machen die AHV-Prognosen nach bestem Wissen und Gewissen.
2021 war das AHV-Ergebnis deutlich positiver als erwartet: Das Plus lag bei 2.6 Milliarden Franken.
Die AHV schreibt vor allem deshalb schwarze Zahlen, weil mit der Steuer-AHV-Vorlage (Staf) eine Zusatzfinanzierung beschlossen worden ist. Zwei Milliarden Franken fliessen jährlich zusätzlich in die erste Säule. Wir stehen aber am Anfang einer Dekade, wo demografisch viel passieren wird. Sehr viele Menschen werden in Pension gehen.
Die Gegner sagen, die Demografie werde überbewertet. Entscheidend für die AHV seien Lohnentwicklung und Produktivitätssteigerungen.
Beide Faktoren haben dazu beigetragen, dass die AHV auch ohne Reformen noch recht solide dasteht. Doch das genügt nicht mehr. Bei der gescheiterten Rentenreform 2017 war unbestritten, dass der AHV ab 2020 1.5 bis 2 Milliarden Franken fehlen werden. Die negativen Ergebnisse trafen wegen der Staf nicht ein. Die AHV ist zentral für die Altersvorsorge und muss finanziell gesund bleiben.
Man kann das auch anders sehen: Niemand will die AHV zugrunde gehen lassen. Im Notfall wäre die Schweizer Bevölkerung immer bereit, mehr Geld in die AHV einzuschiessen.
Ja, aber die AHV muss auch modernisiert werden. Die AHV ist in einer Welt entstanden, wo man sein ganzes Leben lang gearbeitet hat und dann in Rente ging. Das entspricht nicht mehr der Realität. Die Menschen möchten einen fliessenden Übergang, die einen früher, die anderen später. Das ist aber heute nicht möglich. Die Reform ermöglicht die Teilrente.
Die Flexibilisierung ist unbestritten. Der strittige Punkt ist: Weshalb wollen Sie den Frauen die Rente um 26'000 Franken kürzen?
Es werden keine Renten gekürzt, die Reform sichert das Niveau der Renten. Ausserdem besteht sie aus Zusatzeinnahmen von 12 Milliarden bis 2032 und Einsparungen von 9 Milliarden Franken, weil Frauen bis 65 arbeiten. Zentral sind die Kompensationen für jene Frauen, die kurz vor der Pensionierung stehen und vom höheren Rentenalter besonders betroffen sind. Dafür werden fast 3 Milliarden aufgewendet.
Die Frauen haben bei der letzten Erhöhung des Rentenalters mehr bekommen als heute: Die Einführung der Betreuungs- und Erziehungsgutschriften hat die Rentensituation der Frauen massiv verbessert.
Wir alle haben ein Interesse an einer stabilen AHV, auch die Frauen. Ein Mann, der sich mit 65 Jahren pensionieren lässt, hat die Perspektive 20 Jahre Rente zu bekommen. Eine Frau, die mit 64 Jahren in Rente geht, bekommt im Durchschnitt während 24 Jahren eine Rente – also einige Jahre mehr.
Wenn Frauen heute freiwillig bis 65 Jahre arbeiten, erhalten die meisten mit dem Aufschub eine grosszügigere Rente als mit der Reform – trotz der Kompensationen. Ist das fair?
Wir brauchen eine Lösung für die ganze Gesellschaft. Bei der letzten gelungenen AHV-Reform haben wir das Frauenrentenalter um zwei Jahre erhöht, mit grossen Fortschritten für die Frauen. Heute sind Verbesserungen viel schwieriger. In der AHV ist die Gleichstellung erreicht, Frauen bekommen im Schnitt höhere AHV-Renten als Männer.
Verstehen Sie denn, dass die Frauen ihr grösstes Pfand – die Erhöhung des Frauenrentenalters – nicht aus der Hand geben wollen, solange die Lohngleichheit nicht erreicht ist? Schliesslich hat der Lohn einen Einfluss auf die Rente.
Ich verstehe das Argument im Zusammenhang mit der zweiten Säule, aber nicht bei der AHV. In der beruflichen Vorsorge braucht es dringend Verbesserungen für die Frauen. Die AHV hingegen ist sehr gut für die Frauen. Das Engagement für Lohngleichheit ist wichtig, aber es ist nicht richtig, deswegen dringende Reformen der Altersvorsorge zu blockieren.
Die Frauen erhalten einen Drittel weniger Rente als die Männer. Es ist ihnen doch egal, aus welchem Topf die Rente kommt.
Richtig. Deshalb hat der Bundesrat das letzte Mal eine gemeinsame Reform der ersten und der zweiten Säule präsentiert. Die Reform ist gescheitert, sie galt als zu komplex. Deshalb reformieren wir nun AHV und BVG separat.
Und die BVG-Reform wird gelingen?
Die Sozialpartner und der Bundesrat haben eine Vorlage präsentiert, die fair ist und die Situation der Frauen stark verbessert. Diese Vorlage hat aber im Parlament einen schweren Stand. Doch das Ziel ist weiterhin eine mehrheitsfähige Reform.
Für Leute mit kleinen Einkommen ist die berufliche Vorsorge wenig interessant. Wäre es nicht gescheiter, mehr Lohnprozente in die AHV statt ins BVG zu stecken?
Die AHV ist der zentrale Pfeiler unseres Altersvorsorgesystems und solidarisch finanziert. Und die Diskussionen über ihre Zukunft werden auch nach dieser Abstimmung weitergehen. Wir haben eine Volksinitiative, die eine 13. AHV-Rente verlangt und eine andere, die das Rentenalter an die Lebenserwartung knüpfen will.
Sind das gute Ideen?
Der Bundesrat lehnt beide Initiativen ab. Er ist für die Reform, die nun auf dem Tisch liegt. Machen wir die AHV fit für das nächste Jahrzehnt.
Ihre Partei hat ja schon Ideen, wie man die AHV finanzieren könnte. Zum Beispiel mit den Gewinnen der Nationalbank.
Die SNB hat im ersten Halbjahr einen Verlust von 95 Milliarden Franken gemacht. Letztes Jahr war es ein Plus von 26 Milliarden. Das zeigt, wie volatil die Gewinne der SNB sind. Die AHV braucht aber eine stabile und solide Finanzierung.
Die AHV hält das Versprechen nicht ein, die Existenz im Alter zu sichern. Kann man mit 1800 Franken im Monat leben?
Nein, aber deshalb gibt es ja auch die Ergänzungsleistungen. Das System funktioniert gut. Die erste und die zweite Säule sichern zusammen im Pensionsalter zwei Drittel des bisherigen Einkommens. Das Problem ist, dass in der zweiten Säule seit Jahren die Renditen fehlen.
Die Renten sinken im BVG, wir stehen vor wirtschaftlichen Herausforderungen, die einen Einfluss auf die AHV haben. Wagen Sie einen wirtschaftspolitischen Ausblick?
Die Aussichten sind in der Tat unsicher. Die wirtschaftliche Unsicherheit ist ein weiteres Argument dafür, dass sich die Finanzierung der AHV auf unterschiedliche, aber verlässliche Quellen stützt. Die Teuerung ist aktuell viel höher als in den letzten Jahren. Deshalb sollten die Renten per 1. Januar erhöht werden. Dank der zusätzlichen Milliarden aus der Staf können wir die Renten problemlos anpassen. Für die Anpassung der Renten ist der Mischindex aus Teuerung und Lohnentwicklung massgebend.
Was passiert, wenn die AHV-Reform an der Urne durchfällt?
Dann haben wir ab 2025 ein Defizit. Der AHV-Fonds würde sich langsam leeren. Die Politik müsste rasch reagieren. Je länger wir mit der Reform warten, desto grösser und schwieriger wird der Schritt, den wir dann machen müssen.
Dann würde auch Rentenalter 67 schneller ein Thema?
Nein. Das würde ja bedeuten, dass diejenigen, die jetzt die Reform ablehnen, dem Rentenalter 67 zustimmen? Das wäre absurd.
Die Gewerkschaften behaupten, wenn wir der Reform zustimmen, müssen bald alle bis 67 arbeiten.
Nein. Der Bundesrat hat stets gesagt, er wolle das Rentenalter für Männer und Frauen bei 65 harmonisieren. Darüber stimmen wir ab. Die Reform schafft aber eine Flexibilisierung. Wer will, kann bis 70 arbeiten, eine Teilpensionierung ist möglich.
Mit der Reform wird auch die Mehrwertsteuer erhöht. Ist das opportun in Zeiten sinkender Kaufkraft?
Wir sprechen von einer sehr moderaten Erhöhung der Mehrwertsteuer von 7.7 auf 8,1 Prozent. Das ist verkraftbar, vor allem weil die Mehrwertsteuer aufgrund der abgelehnten Altersreform 2018 von 8 auf 7.7 gesunken ist. Bei Lebensmitteln macht die Erhöhung bei einem Einkauf von 100 Franken gar nur 10 Rappen aus.
Zur sinkenden Kaufkraft werden auch die steigenden Krankenkassenprämien beitragen. Wieso steigen sie?
Um die Entwicklung zu verstehen, muss man die letzten Jahre anschauen. Seit 2019 sind die Prämien kaum gewachsen, zuletzt waren sie gar leicht rückläufig. Leider waren die Kosten zuletzt höher als erwartet und auch die Erträge auf den Reserven waren viel tiefer. Aber die Alternative zu einer flachen Wachstumskurve, die nun steigt, wäre eine stetige Zunahme. Was ist jetzt besser?
Ein stetiger, flacher Anstieg.
Dann hätten in den letzten Jahren aber alle bereits höhere Prämien bezahlt. Aber die Frage stellt sich auch gar nicht: Wie sich die Prämien entwickeln, berechnen die Versicherer. Und die Prämien müssen den Kosten entsprechen.
Den Reserveabbau hat der Bundesrat verfügt.
Der Bundesrat hat die Verordnung geändert, auch auf Druck des Parlaments. Die Reserven lagen bei mehr als 12 Milliarden Franken. Nur 7 waren nötig. Deshalb war der Abbau richtig. Es ist zu einfach, das aus heutiger Perspektive zu kritisieren.
Mit dem überhasteten Reserveabbau ist der Puffer verloren gegangen.
Nein. Der Puffer ist noch da. Und vom Abbau haben alle profitiert, die Prämien zahlen.
Wieso steigen dann die Prämien?
Wegen der Kosten. Wir haben wegen der Pandemie sehr unübersichtliche Jahre hinter uns. Im ersten Jahr der Pandemie dachte ich mir: Jetzt steigen die Kosten. Das Gegenteil war der Fall. Im zweiten Jahr dachte ich: Die Kosten würden sinken. Wieder falsch, es war umgekehrt. Wir sehen einen Nachholeffekt von Personen, die mit Operationen zugewartet haben oder gar nicht mehr zum Arzt gingen. Aber es gibt auch andere Probleme.
Welche?
Der Bundesrat schöpfte seinen Handlungsspielraum aus. Er hat die Medikamentenpreise gesenkt, den Ärztetarif korrigiert. Weitere Änderungen sind nur mit Hilfe des Parlaments möglich. Der Bundesrat hat ein Kostendämpfungspaket verabschiedet. Doch die Massnahmen haben einen schweren Stand im Parlament. Bald kommt ein zweites Paket.
Es gibt Reformen, die der Bundesrat vorantreiben könnte, beispielsweise den neuen Ärztetarif Tardoc.
Es ist zu einfach, dem Bundesrat vorzuwerfen, er tue nichts. Wir beweisen seit zehn Jahren das Gegenteil. Das ist der Vorwurf des Kartells des Schweigens, von den Akteuren im Gesundheitssystem. Wenn dann aber eine Reform ins Parlament kommt, blockieren sie alles.
Und der Tardoc?
Ein Prüfbericht hat gezeigt, dass wir mit dem Tardoc keine Kosten sparen, sondern dass es teurer wird. Trotz Fortschritten waren damit die gesetzlichen Anforderungen nach Kostenneutralität nicht erfüllt. Das muss angepasst werden.
Gibt es Geschäfte, die ihnen nach zehn Jahren Amtszeit noch Freude bereiten?
Doch, doch. Die Arbeit macht mir Freude. Haben Sie nicht den Eindruck?
Na ja.
Bei den Gesundheitsreformen sind die Debatten hart: Es geht um sehr viel. Es braucht ein grosses Engagement, um einen Schritt vorwärtszumachen.
Aktuell stockt es.
Im Moment ist es schwierig. Ich bedaure beispielsweise, dass wir die Generikapreise nicht senken können. Wir zahlen doppelt so viel wie im Ausland. Das Parlament hat das Referenzpreissystem für günstigere Preise abgelehnt.
Auch aus Gründen der Versorgungssicherheit. In der Schweiz fehlen schon heute Medikamente.
Das würde ich bestreiten und es waren Ausnahmen vorgesehen. Das ist das Argument, das die Gegner tieferer Preise anführen.
Welche Geschäfte begleiten sie mit Freude?
Die Altersreformen sind sehr wichtig, auch sehr aufwendig. Dafür wende ich viel Energie auf. Zuvor haben wir erstmals die Invalidenversicherung verbessert, die grösste Reform der Ergänzungsleistungen durchgebracht. Wir haben auch konkret Verbesserungen für Menschen hingebracht, wie die Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose.
Die Überbrückungsrente wird kaum nachgefragt. Viel Bürokratie für nichts?
Diese neue Sozialversicherung ist erst seit einem Jahr in Kraft. Sie muss sich erst etablieren. Ausserdem ist die Situation auf dem Arbeitsmarkt gut. Wir hatten eine Wirtschaftsentwicklung, die durch Negativzinsen gefördert wurde. Das kann sich rasch ändern. Und dann wird die Hilfe nachgefragt.
Sie halten daran fest?
Ja, es ist ein Instrument, das Ungerechtigkeiten beseitigt. Die Überbrückungsleistung hilft Menschen, die ein Leben lang gearbeitet haben und mit 60 den Job verlieren, dann zwei Jahre Arbeitslosengeld beziehen und dann vor dem Nichts stehen.
Wir fragen auch deshalb nach Ihrer Motivation, weil Ihnen unterstellt wird, amtsmüde zu sein.
Wenn man alles glauben würde, was in den Zeitungen steht …
Ein Rücktritt steht nicht an?
Nein.
Sie wollen nicht mehr Zeit mit Fliegen verbringen?
Zu dem Thema wurde bereits alles gesagt.
Die Renditen sind schon da, sie werden einfach nicht an die Versicherten weitergegeben…