Schweiz
Interview

Corona-Situation: Das sagt Epidemiologe Tanner zu Bundesrats-Entscheid

THEMENBILD --- GASTROBETRIEBE MACHEN WEGEN CORONA-MASSNAHMEN ZU WENIG UMSATZ -- Une serveuse avec un masque porte des bieres sur un plateau aux clients de la terrasse des Grandes Roches sous les arche ...
Trotz explodierender Corona-Fallzahlen bleiben die Restaurants in der Schweiz weiter bis 23 Uhr offen. Bild: KEYSTONE
Interview

«Man sollte der Bevölkerung keinen Vorwurf machen»: Experte Tanner zu den neuen Massnahmen

Während Deutschland und Frankreich alle Beizen dichtmachen, kann man in der Schweiz weiter munter bis 23 Uhr bechern. Epidemiologe Marcel Tanner sagt, was er von den neuesten Verschärfungen des Bundes hält und was ihm am meisten Sorgen macht.
29.10.2020, 05:5529.10.2020, 13:12
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Herr Tanner, reichen die Massnahmen des Bundes aus, um die Pandemie in den Griff zu kriegen?
Marcel Tanner: Der Bundesrat ist den Empfehlungen der Wissenschafts-Taskforce weitgehend gefolgt. Wichtig ist festzuhalten: Wir brauchen nicht nur stabile, sondern sinkende Fallzahlen! Wir müssen den R-Wert, die Übertragungsrate, wieder unter 1 drücken können. Ich hoffe, dass die beschlossenen Massnahmen des Bundesrates ausreichen. Denn sie erlauben – im Gegensatz zu einem harten Lockdown – weiter ein wirtschaftliches und soziales Leben in der Schweiz.

>> Coronavirus: Alle News im Liveticker

Während Deutschland trotz deutlich tieferer Fallzahlen ab Montag alle Restaurants dichtmacht, dürfen wir in der Schweiz weiter munter bis 23 Uhr bechern. Ist das nicht absurd?
Jedes Land muss selber einschätzen – eine Güterabwägung vornehmen – welchen Weg es geht und welche Einschränkungen dazu nötig sind. Die Beizen-Sperrstunde um 23 Uhr (mit Beschränkung auf 4er-Regel pro Tisch und Abstandsregel) ist sicher das Minimum an Einschränkung, was man in der Gastronomie machen sollte. Die Kantone können weitergehen, wie das Beispiel Wallis zeigt.

«Deutschland muss selber einschätzen, welchen Weg das Land geht.»

Voller ÖV, volle Innenstädte: Es scheint, als hätten viele Menschen den Ernst der Lage noch nicht begriffen. Was muss jetzt passieren?
Je weniger Leute wir in den nächsten Wochen treffen, desto besser. Darum müssen nun die Arbeitgeber ihre Mitarbeitenden wenn möglich im Homeoffice arbeiten lassen. Man sollte der Bevölkerung keinen Vorwurf machen. Vielmehr sollten wir uns alle jetzt an der Nase nehmen und die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen gemeinsam konsequent umsetzen.

Epidemiologe und Mitglied der Covid-19-Taskforce des Bundes, Marcel Tanner,
Marcel Tanner ist Epidemiologe an der Uni Basel. Bild: Annette Boutellier
«Ein zweiter Lockdown wäre für das soziale und wirtschaftliche Leben desaströs.»

Der Winter hat noch nicht einmal begonnen, schon rufen einige Spitäler in der Schweiz die höchste Warnstufe aus. Was macht Ihnen mit Blick auf die nächsten Monate am meisten Sorgen?
Wir müssen jetzt alle am gleichen Strick ziehen. Das muss uns gelingen. Dann lässt sich ein zweiter Lockdown verhindern. Dieser wäre sowohl für das wirtschaftliche als auch das soziale Leben in der Schweiz desaströs.

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Bundesrats-PK 28.10.2020
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63 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Maria Cardinale Lopez
29.10.2020 06:47registriert August 2017
Wir hören immer wir sollen am gleichen Strick ziehen. Ziehen wirklich alle am gleichen Strick?
Nicht einmal die Experten sind sich einig.
Herr Maurer plappert auch einfach los vor Bundesratsitzungen, damit seine Meinung die Leute vorher sicher schon beeinflusst haben.
Die Kantone ziehen am gleichen Strick. Da muss man nur lachen.
Schade es könnte reichen mit den Massmahmen, wird es aber nicht, da sich viele Leute nicht dranhalten werden.
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stookie
29.10.2020 09:52registriert Oktober 2014
> Vielmehr sollten wir uns alle jetzt an der Nase nehmen und die vom Bundesrat beschlossenen Massnahmen gemeinsam konsequent umsetzen.
Und wieso konnten wir uns in den vergangenen Monaten nicht an der Nase nehmen und einfach Vernunft walten lassen?
Doch, ich mache der Bevölkerung einen Vorwurf!
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Fairness
29.10.2020 08:02registriert Dezember 2018
Ich kann einfach nicht verstehen, dass man nicht versucht hat, die tiefen Zahlen vom Sommer möglichst zu halten. Leichtfertig verspielt. Aber „wir können Corona“ ... Wo denn?
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«Erster wirklicher Stresstest für die Schuldenbremse»: Ökonom ordnet drohendes Defizit ein
Beim Bund drohen Defizite von bis zu vier Milliarden Franken. Wie schlimm ist das? Und wie hat man in der Vergangenheit darauf reagiert? Ökonom Thomas M. Studer, der zur Geschichte der Bundesfinanzen seine Dissertation verfasst hat, gibt Auskunft.

Jahrelang schrieb der Bund Überschüsse. Jetzt drohen Defizite in Milliardenhöhe. Verglichen mit früher: Wie schlecht steht es um die Bundesfinanzen?
Thomas M. Studer:
Um das vergleichen zu können, stellt man das Defizit ins Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP). Bei jährlichen strukturellen Defiziten von 2 bis 4 Milliarden Franken, wie sie der Bund erwartet, sind das gemessen am aktuellen BIP rund 0,25 bis 0,5 Prozent. In der Schuldenkrise der 1970er-Jahre waren es bis zu 0,9 Prozent, in den 1990er-Jahren sogar bis 2 Prozent. So schlimm ist es heute noch nicht. Was die Geschichte aber zeigt: Es ist schwierig, aus einer Defizitphase herauszukommen, wenn man mal drin ist.​

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