Lieber Herr Berset
Sicher kennen Sie «dr Alpeflug», dieses berühmte Lied von Mani Matter über die zwei Freunde im Sportflugzeug.
Da versucht der Passagier dem Piloten zu sagen, dass das Benzin ausgehe, doch der versteht im Motorenlärm nichts. Erst als der Motor mit Sprotzeln aufhört, wird beiden der Ernst der Situation klar. Und sie schweigen.
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Ein bisschen erinnern Sie mich an den Passagier, der im Lärm nicht mehr durchdringt und sehenden Auges in den Abgrund mittaumelt.
Um eine Pandemie zu bewältigen, muss eine Regierung die «Menschen an Bord holen», wie Daniel Koch es ausdrückt. «Ins Cockpit setzen» wäre vielleicht treffender gewesen. Wenn so tief in die persönliche Freiheit eingreifende Massnahmen unbefristet durchgehalten werden sollen, muss die Bevölkerung die aus Überzeugung selbst umsetzen.
Überzeugt wird sie aber nur mit kompetentem Handeln, vollständiger Information, ehrlicher Kommunikation und transparenter Fehlerkultur seitens der Verantwortlichen. In den letzten Wochen haben wir davon das exakte Gegenteil gesehen.
In berserkerisch anmutenden Ausblend-Efforts haben viele Kantone die Warnungen vor einer zweiten Welle ignoriert, die Test- und Tracing-Kapazitäten unzureichend ausgebaut und gleichzeitig (Sauf-)Grossanlässe bewilligt, als gäbe es kein Morgen.
Nachdem die für das Einhegen des Virus' nötige Test- und Tracing-Infrastruktur zusammengebrochen war, bezeichnete man diese als «am Anschlag», zeigte sich allerorten «überrascht» und bezeichnete die Lage im Stakkato wahlweise als «ernst» oder «sehr ernst».
Da liefen im Hintergrund längst die Auseinandersetzungen zwischen Behörden und Lobbys, Bund und Kantonen. Wann muss man was wie stark einschränken, damit die Kapazitäten des Gesundheitssystems recht ausgereizt werden? Gerade so, dass das Verhältnis zwischen Toten und Arbeitslosen noch vertretbar ist? Und: Wer entscheidet und zahlt das?
Die Querelen erreichten auch die Öffentlichkeit. Nun waren Berner Sportanlässe plötzlich der corona-sicherste Ort überhaupt. Nun war das Gesundheitspersonal noch vom Frühling so erschöpft, dass es subito eine Lohnerhöhung brauchte. Nun schlugen von den Notärztinnen über die Epidemiologinnen bis zu den Lehrern alle «Alarm», die es noch nicht getan hatten. Nun stand die Gastro-Branche vor der Entlassung von 100'000 Leuten. Und nun waren die Spitalbetten je nach dozierendem Experten und je nach Zählweise und Betten-Art wahlweise innert zwei, drei oder vier Wochen ausgelastet.
Der Finanzminister der grössten Schweizer Partei hingegen bezeichnete die Corona-Pandemie als «Grippe», ärgerte sich über die «Hysterie» und zählte öffentlich die Milliarden ab, die weitere Einschränkungen kosten würden. Als ob Nichtstun günstiger wäre. Die täglichen Fallzahlen stiegen unterdessen im vier- statt im dreistelligen Bereich. Zwei oder drei Kantone stellten das öffentliche Leben ein. Der grösste Kanton aber, der unternahm gar nichts.
Wer sollte in diesem Lärm noch mitkommen, sich den noch antun? Daraus irgendwelchen Erkenntnisgewinn ziehen? Stattdessen gingen die Leute noch einmal ans Jodelfest, an die Hochzeit oder ins Shopping-Center. Immer ein bisschen weiter dem Abgrund entgegen.
Nun wird es nicht viel stiller werden. Die einen werden die neuen Massnahmen als viel zu lasch kritisieren, die anderen als völlig überzogen. Der Lärm wird weitergehen, aber Sie müssen ihn irgendwie übertönen. Sie müssen es hinkriegen, die Bevölkerung abzuholen und ins Cockpit dieser Pandemie-Bekämpfung zu setzen.
Sonst werden Sperrstunden und Singverbote über kurz oder lang umgangen, der Social Shutdown nicht die dringend nötige Wirkung erzielen.
Und dann ist der Absturz gewiss.
Hochachtungsvoll
Maurice Thiriet
Was sie dabei übersehen ist, dass nicht nur Herr Berset, sondern wir alle die Verantwortung dafür tragen, dass die Spitäler nicht überlastet werden, inklusive Chefredakteure, die das Scheitern herbei geschrieben haben, bevor die Massnahmen überhaupt in Kraft traten.
Herr Thiriet, wovon sprechen sie?