Schweiz
Interview

Lisa hat Sex mit Behinderten – und will damit Gutes tun 

Die Sexualbegleiterin Lisa Moll (will unerkannt bleiben) und Erich Hassler wollen glückliche Behinderte. 
Die Sexualbegleiterin Lisa Moll (will unerkannt bleiben) und Erich Hassler wollen glückliche Behinderte. bild: aargauerzeitung/ Jiri Reiner
Interview mit einer Sexualbegleiterin

Lisa hat Sex mit Behinderten – und will damit Gutes tun 

Lisa ist Sexualbegleiterin und wurde von Erich, der sich für die Rechte und Bedürfnisse der Behinderten einsetzt, ausgebildet. Aber was ist Sexualbegleitung? Lisa sagt offen: «Es ist Prostitution.» Ein Treffen. 
20.11.2014, 09:4320.11.2014, 16:02
 Alexandra Fitz / nordwestschweiz
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Ein Artikel von
Aargauer Zeitung

Erich und Lisa* küssen sich zur Begrüssung auf den Mund. Was anfangs irritierend ist, ergibt nach dem Gespräch ein stimmiges Bild ihrer Charaktere: Sie sind warmherzig, haben kein Problem mit innigen Berührungen und machen beide Tantra. Der 65-Jährige wirkt väterlich und jugendlich zugleich. Lisa ist 50 Jahre alt, sieht aber zehn Jahre jünger aus. Und das ungeschminkt, denn sie ist der Öko-Typ. Sogleich bieten die beiden Sexualbegleiter der Journalistin das «Du» an. 

Ist Sexualbegleitung nicht nur ein verharmlosendes Wort für Prostitution? 
Lisa:
Wir bieten sexuelle Dienstleistung gegen Geld an, und das ist Prostitution. Würde ich «Nein» sagen, würde ich das eine auf-, das andere abwerten.
Erich: Aber sie ist anders. Bei uns kauft man Zeit der Begegnung, keinen sexuellen Akt.

Und was kostet eure Zeit? 
Erich:
120 bis 150 Franken die Stunde. Plus etwas Reisespesen. 

Wer bucht dich? 
Lisa:
Definitiv mehr Männer. Ich habe meist schwer Behinderte – geistig und körperlich. Auch solche, die keine Lautsprache haben. 22 Jahre alt war mein jüngster, 75 mein ältester Gast. 

«Geschlechtsverkehr biete ich nicht beim ersten Date an. Er muss entstehen wie im wirklichen Leben.»

Und wer macht die Anfrage? 
Lisa: 
Der Behinderte selbst oder eine Bezugsperson. Ich hatte schon zwei Anfragen von Müttern. Eine wünschte sich, dass ihr Sohn im Wohnheim eine Freundin findet und sich so eine Art Aufklärung ergäbe. Die andere Mutter wollte, dass ihr Sohn in einem geschützten Raum sexuelle Erfahrungen macht. 

Was möchten die Männer? 
Lisa: 
Das ist ganz verschieden. Ich habe einen Gast, der will nur gehalten werden und mich berühren. Er will ganz still auf meinem Bauch liegen, dabei sind wir beide bekleidet. Das ist seine Art der Sexualität. Die Mehrheit will aber sexuelle Handlungen, Geschlechtsverkehr wird auch gewünscht. 

Hast du Tabus? 
Lisa: 
Geschlechtsverkehr biete ich nicht beim ersten Date (so heissen die Treffen, Anm. d. Red.) an. Er muss entstehen wie im wirklichen Leben. Wenn ein Mann anruft und gleich sagt: «Ich will Sex und nichts anderes», ist er bei mir falsch. Anal- und Oralsex lehne ich ab. 

Darfst du auch ablehnen? 
Lisa: 
Ja, beide Seiten dürfen. Deshalb ist das Erstgespräch vor den Dates wichtig – dabei besprechen wir Wünsche und Grenzen. 
Erich: Zu unseren Richtlinien zählt aber, dass wir keinen Kunden wegen seiner Behinderung ablehnen. 

«Weil ich Menschen mit Behinderung eine Dienstleistung biete, die sie auf ‹normalem› Weg nicht erfahren können, dazu stelle ich meinen Körper zu Verfügung.»

Warum bist du Sexualbegleiterin? 
Lisa:
Weil ich Menschen mit Behinderung eine Dienstleistung biete, die sie auf «normalem» Weg nicht erfahren können, dazu stelle ich meinen Körper zu Verfügung. Es ist auch ein Geschenk, einen Menschen zu berühren, nicht nur körperlich, sondern auch auf der Herzensebene. 

Hast du ein Helfersyndrom? 
Lisa:
Nein. Wenn ich eins hätte, würde ich nur das machen, was die Person will. Aber ich sage deutlich, wenn mir etwas nicht passt. Aber es ist schon so, dass ich etwas Gutes tun will. 

Was sagt dein Umfeld? 
Lisa:
Freunde und Arbeitskollegen wissen es. Mein Partner natürlich auch. Er weiss jeweils, wenn ich ein Date habe, und wir sprechen auch über unsere Gefühle und Ängste. Selbstverständlich erzähle ich keine Details. Er weiss, dass es nicht derselbe Sex ist wie mit ihm. 

Er sieht ja keine Konkurrenz. 
Lisa: 
Ja, das spielt sicher auch mit. Es kommen auch Anfragen von Männern, die nicht behindert sind. Unser Angebot ist nicht ausschliesslich an Behinderte gerichtet. Ich biete dann gerne eine Tantra-Massage, bei der ich die Gebende bin. Aber es kommt nicht zu gegenseitigen Aktivitäten. 

Habt ihr auch einen Service für ältere Menschen? 
Erich: 
Ja, aber wir werden ihn noch mehr ausbauen. Wir haben eine Begleiterin, die vor allem betagte Kunden hat. Ihr Ältester ist 94 Jahre alt. In der Ausbildung gibt es das Modul «Sexualität und Alter». 

Wie war dein erstes Date? 
Lisa: 
Es war in einer Klinik. Ich dachte zuerst, dass ein Date in so einer Umgebung nicht romantisch sein kann. Als ich das Zimmer des jungen Mannes betrat, brannten zwei Batteriekerzchen, Rosenblätter lagen auf dem Bett und auf dem Tisch stand eine Flasche Rimus und ein Rosenstrauss. 

Was habt ihr gemacht? 
Lisa:
Wir haben uns gestreichelt. Er wollte meine Brüste berühren. Wir lagen da, haben einfach gekuschelt. Ich frage meine Gäste immer, ob sie sich wohlfühlen. Ich muss ihnen Möglichkeiten unterbreiten, denn diese Menschen haben oft nicht gelernt, ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Aber der Impuls sollte von ihnen kommen. 

«Es darf für den Begleiter auch lustvoll sein. Man soll aber nichts vorspielen. Was man auf keinen Fall darf, ist sein eigenes sexuelles Defizit damit stillen.»

Du warst im ersten Ausbildungsgang (März bis November 13) dabei. Wann beginnt der nächste und wer ist dieses Mal dabei? 
Erich:
Wir starten im März 2015. Bis jetzt sind ein Mann und drei Frauen angemeldet. Die Teilnehmer sind zwischen 40 und 50 Jahre alt. Wir haben dieses Mal auch eine sehr junge Frau, sie ist 27. Das ist für mich die unterste Grenze. 

Aber es steht doch ab 18 Jahren? 
Erich: 
Ja, aber man braucht Lebenserfahrung und natürlich muss man sexuell offen sein. Es ist ein grosser Vorteil, wenn man schon Körperarbeit gemacht hat. 

Körperarbeit
Erich: Tantra, Masseur oder Physiotherapeut. Ihnen ist das Berühren von Menschen nicht fremd. 

Sind Sexualbegleiter-Anwärter nicht meist aus sozialen Berufen? 
Erich:
Sie kommen aus allen möglichen Berufen. Wir hatten eine Logopädin, einen Mathematiker, einen Wirt, eine Psychologin, eine Tantra-Masseurin. 

Wie entscheidet ihr, ob jemand die Ausbildung machen darf? 
Erich: 
Die Motivation ist das Wichtigste. Für den nächsten Kurs mussten wir zwei Leuten absagen, obwohl wir noch Platz hätten. Einer Frau, die aus der klassischen Prostitution kam und nur wegen des Geldes Sexualbegleiterin werden wollte. Und einem Mann, der sexuelle Beziehungen mit verschiedenen Frauen hat und nun noch Erfahrungen mit behinderten Frauen sammeln möchte. Bei Männern hört man nicht selten: ‹Bei mir daheim läuft sexuell nichts mehr, deswegen will ich diese Ausbildung machen.› Das ist fatal. 

Dürfen Sexualbegleiter keinen Spass haben bei der Arbeit? 
Erich:
Es darf für den Begleiter auch lustvoll sein. Man soll aber nichts vorspielen. Was man auf keinen Fall darf, ist sein eigenes sexuelles Defizit damit stillen. Das geht sonst Richtung Missbrauch. 

Du leitest die Ausbildung, arbeitest du selbst noch als Begleiter? 
Erich:
Wenn es einen konkreten, persönlichen Auftrag gibt, ja. Im Moment begleite ich noch zwei Frauen. 

Datest du auch Männer? 
Erich: 
Die klassische Begleitung mache ich schon bei Frauen. Bei Männern geht es mehr um Aufklärung. Viele wissen nicht, wie man sich selbst befriedigen kann. Das erkläre und zeige ich ihnen. 

Und was sind deine Grenzen? 
Erich: 
Ich sage immer gleich, dass ich in einer stabilen Partnerschaft und deshalb für eine Beziehung unerreichbar bin. Das verstehen die Frauen die ersten sechsmal meist ganz gut, dann will aber das Herz vielleicht was anderes – es kam auch schon mal vor, dass sich eine Frau verliebt hat. 

Was machst du dann? 
Erich:
Ich bin offen und ehrlich: «Schön, geniess den Moment, aber ich habe mich nicht in dich verliebt.» Behinderte haben auch ein Recht auf Liebeskummer. Wir müssen Behinderte nicht vor dem Leben schützen. 

«Heime sollen offener werden, was Beziehungen zwischen den Bewohnern betrifft, und nicht gleich Angst haben, was passieren könnte.»
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Früher bot man keinen Geschlechtsverkehr an, in den letzten fünf Jahren habt ihr das verändert. Warum? 
Erich: Sexualität ist viel mehr als der eigentliche Akt, wir wollen diese nicht auf den Geschlechtsverkehr reduzieren. Und wenn wir sagen, wir bieten alles ausser das, geben wir ihm genau diesen hohen Stellenwert. Also bieten wir Zeit der Begegnung. Was dann entsteht, ist offen. 

Lisa: Dem Akt wird viel zu viel beigemessen. Trotzdem: Männer wollen wissen, dass sie funktionieren, dass sie eine Erektion haben und ihr Glied funktioniert. 

Das ist bei Nicht-Behinderten nicht anders.
Erich:
Nein. Und das ist auch bei Frauen so. Eine querschnittgelähmte Frau wollte Sex mit mir. Ich habe sie gefragt, warum, sie spüre ja nichts. «Ich will einmal wissen, dass ein Mann in mir ist, dann fühle ich mich ganz als Frau.» Das findet im Kopf statt. Auch wenn sie nichts fühlt, will sie es trotzdem erleben, vielleicht sogar in einem Spiegel mitverfolgen. 

Was wünscht ihr euch für die Zukunft der Sexualbegleitung? 
Erich:
Die Gesellschaft wird immer offener. Trotzdem bleibt der Wunsch, dass die Sexualität der Behinderten noch weniger tabuisiert wird. Wir möchten, dass in Kliniken und Institutionen ein Sexualberater/eine Sexualberaterin vor Ort ist. 
Lisa: Heime sollen offener werden, was Beziehungen zwischen den Bewohnern betrifft, und nicht gleich Angst haben, was passieren könnte. Eltern sollen ein behindertes Kind ganz normal aufklären, denn heute kommen sie in Wohnheime und haben meist kein sexuelles Wesen. 

Können die Behinderten selbst auch etwas tun? 
Lisa: 
Ja, wenn sie sich eine Partnerschaft wünschen, sollen sie sich dafür einsetzen und sich anstrengen. Das heisst auch, dass man sich attraktiv machen soll. Behinderte Menschen dürfen auch mutiger und rebellischer sein. 

Eine Rebellion für was? 
Erich: 
Das Problem sieht so aus: Weil eher Männer eine Sexualbegleitung wünschen, sind für die Ausbildung mehr Frauen gefragt. Wenn Männer ihre Sexualität nicht ausleben können, werden sie oft aggressiv und belästigen Mitbewohner und Betreuer. Dann werden wir gerufen. Anders bei den Frauen: Bei Entzug werden sie eher depressiv und ziehen sich zurück und da sieht man weniger den Anlass, uns zu kontaktieren. Daher wünsche ich mir, dass behinderte Frauen mutiger sind, auf den Tisch klopfen und sagen: «Ich will auch Sex!» 

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2 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Bash Burelli
20.11.2014 13:14registriert Oktober 2014
Ein polarisierendes Thema ist es, was hier behandelt wird. Aber auch mutig und offen. Das gefällt mir. Schön, dass sich Menschen dafür interessieren und einsetzen.
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