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Zauberformel: Vorschlag für Bundesrats-Abtausch zwischen FDP und Mitte

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Ende der Zauberformel? Neuer Vorschlag für Bundesrats-Abtausch zwischen FDP und Mitte

Mit dem Mantra, keinen amtierenden Bundesrat abzuwählen, verpasse Mitte-Präsident Gerhard Pfister das Momentum des Erfolgs von 2023, sagt Historiker Urs Altermatt. Er plädiert für eine Rotationsformel – anstelle der Zauberformel.
27.11.2023, 05:2127.11.2023, 08:30
Othmar von Matt / ch media
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Gerade zeigt Mitte-Chef Gerhard Pfister (links) der FDP und ihrem Präsidenten, Thierry Burkart, wo es langgeht.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister und FDP-Präsident Thierry Burkart sollen eine Vereinbarung aushandeln für eine Rotationsformel im Bundesrat, sagt Historiker Urs Altermatt.Bild: Keystone

Parteienhistoriker Urs Altermatt führte in den 1980er und 1990er Jahren als Experte auf SRF durch die Bundesratswahlen. Im Buch «Das historische Dilemma der CVP» von 2012 schrieb er das Skript für die Reformen, die Mitte-Präsident Gerhard Pfister 2020 umsetzte. Altermatt gilt als Zauberformel-Spezialist.

Die Mitte hat die FDP bei der Fraktionsstärke überholt. Ist die Zauberformel von 1959 am Ende?
Urs Altermatt: Die alte Zauberformel von 1959 wurde mit der Abwahl von Bundesrätin Ruth Metzler beerdigt – durch SVP und FDP. Danach folgten Turbulenzen bis 2015, als man eine neue Regierungsformel installierte – mit zwei SVP-Sitzen und einem CVP-Sitz.​

Mit 14,3 Prozent Wählerstärke hat die FDP ein historisches Tief. Was bedeutet das?
Die Wahlen 2023 sind Ausdruck einer längeren Talfahrt des Freisinns. Die FDP begann bei den ersten Proporzwahlen von 1919 mit 28,8 Prozent, erhielt 1999 19,9 und 2023 14,3 Prozent.​

«Die FDP hat inzwischen das Handicap, an dem die alte CVP litt», sagt Historiker Urs Altermatt. «Sie hat Mühe, Wechselwähler zu gewinnen.»
«Die FDP hat inzwischen das Handicap, an dem die alte CVP litt», sagt Historiker Urs Altermatt. «Sie hat Mühe, Wechselwähler zu gewinnen.»Bild: carole lauener

Geht der Sinkflug der FDP weiter?
Die FDP hat inzwischen das Handicap, an dem die alte CVP litt, sie hat Mühe, Wechselwähler zu gewinnen. Der FDP fehlen zunehmend die jüngeren Wählenden. Ich glaube aber nicht an einen Untergang der FDP. Ihre Verankerung in den Kantonen spricht dagegen, auch wenn die grosse Zeit der liberalen Parteien – europäisch betrachtet – seit dem Zweiten Weltkrieg vorbei ist.​

Mitte-Präsident Gerhard Pfister sprach in der NZZ von einem Wandel hin zu drei Polen. Wie sehen Sie das?
Das Bild der drei Pole – Links, Mitte, Rechts – ist eine Darstellung der Parteienlandschaft aus einer anderen Perspektive. Die Bezeichnung Mitte gab es schon im 19. Jahrhundert. So existierte eine Partei mit dem Namen liberales Zentrum. Die NZZ hatte das Bild vom Mitte-Pol schon vor den Wahlen verwendet. Früher sprach man von der «tripartiten» Parteienlandschaft und meinte dasselbe wie heute - einfach mit anderen Inhalten.​

Ex-FDP-Präsidentin Petra Gössi wollte das «Liberale» als dritten Pol etablieren. Ist dieser Versuch gescheitert?
Ja, er scheint mir gescheitert. Ein liberaler Pol funktioniert vielleicht in einem Zweiparteiensystem, nicht aber in einer Mehrparteienlandschaft. Es gibt heute kaum mehr jemanden, der sich nicht als liberal betrachtet: linksliberal, rechtsliberal, sozialliberal, liberalkonservativ.​

Gibt es auch keinen bürgerlichen Block mehr, wie Gerhard Pfister sagt?
Der sogenannte Bürgerblock bildete sich aus den Klassenkämpfen nach dem Ersten Weltkrieg heraus. Der rechte Block mit FDP, CVP und BGB (später SVP) bezeichnete sich als Bürgerblock gegen die sozialistische Arbeiterschaft. Er bestimmte, wann die Sozialdemokraten in den Bundesrat eintreten durfte. Das war 1943 der Fall.​

Dann zerbrach er?
In der Nachkriegszeit nach 1945 erodierte der Bürgerblock langsam. Das hatte in erster Linie mit dem Ruck der Konservativ- Christlichsozialen (später CVP) in die Mitte und mit dem Machtverlust der FDP zu tun. 1943 gestand die FDP der CVP den ersten Bundeskanzler zu. 1951 holte die FDP den Bundeskanzler zurück, obwohl sie noch immer drei Bundesratssitze hatte. Das brachte in der CVP mit nur zwei Bundesräten das Fass zum Überlaufen.​

Hauptprotagonist war CVP-Generalsekretär Martin Rosenberg, der die Zauberformel erfand. Sie kannten ihn persönlich?
Da ich an einer parteigeschichtlichen Dissertation arbeitete, kam ich in Kontakt mit Rosenberg, der gerne mit mir diskutierte und mich animieren wollte, nach Abschluss meines Studiums ins Generalsekretariat zu gehen. Vergebliche Liebesmüh.​

Wie erlebte er die 1950er Jahre?
1951 war für Martin Rosenberg das Schlüsselerlebnis. Als die FDP der CVP den Bundeskanzler wieder wegnahm, hatte er genug. Jetzt arbeitete er entschieden daran, für die CVP die Gleichberechtigung mit der FDP im Bundesrat zu erreichen. Mit der Unterstützung der SP glückte 1954 die numerische Gleichstellung mit den Freisinnigen. 1959 gelang ihm die Zauberformel 2-2-2-1, also je zwei Sitze für FDP, CVP und SP und einen Sitz für die BGB/SVP. Ich betrachte die 1950er Jahre als historisches Guckloch für die Übergangsphase von heute.​

Alle in Schwarz – und alles Männer: Der Bundesrat von 1959. CVP-Generalsekretär Martin Rosenberg war es mithilfe der SP gelungen, die Zauberformel 2-2-2-1 zu installieren – je zwei Sitze für FDP, CVP  ...
Alle in Schwarz – und alles Männer: Der Bundesrat von 1959. CVP-Generalsekretär Martin Rosenberg war es mithilfe der SP gelungen, die Zauberformel 2-2-2-1 zu installieren – je zwei Sitze für FDP, CVP und SP und einen Sitz für die BGB (heute SVP).Bild: keystone

Was sagt Ihnen das Guckloch?
Die Situation von 2023 ist praktisch deckungsgleich mit 1955, was CVP/Mitte und FDP betrifft. Die CVP/Mitte lag 0,1 – heute sind es 0,2 – Wählerprozente hinter der FDP. Die CVP hatte aber schon 1955 die stärkere Fraktion.​

«Jede Bundesratspartei – CVP, SP und SVP – rannte mehrfach an, bis sie in die Regierung kam. Sie schuf damit die Erzählung: Wir gehören in den Bundesrat.»

Mitte-Präsident Pfister sagt, er wolle keinen Bundesrat abwählen. Er beanspruche erst mittelfristig einen zweiten Bundesratssitz.
Mittelfristig halte ich für zu spät. Präsident Pfister ist meines Erachtens zum Gefangenen seines eigenen, wiederholt formulierten Mantras geworden: Die Mitte-Partei wählt keinen amtierenden Bundesrat ab. Damit verpasst er das Momentum des Erfolgs von 2023.​

Die Grünen greifen am 13. Dezember einen FDP-Bundesratssitz an…
... endlich greifen sie an! Als Historiker betrachte ich den Angriff als übliche Aktion in der Bundesratsgeschichte. Jede Bundesratspartei – CVP, SP und SVP – rannte mehrfach an, bis sie in die Regierung kam. Sie schuf damit die Erzählung: Wir gehören in den Bundesrat. Das ist die Funktion eines verlorenen Wahlkampfes für den Bundesrat.

Und 2027?
2027 schlägt das Wahlpendel vermutlich zurück: Die Grünen legen wieder zu, weil das Klima ein permanentes Thema bleibt. Sollten sie 2027 deutlich über die Marke von 10 Prozent kommen, wird die Übervertretung der FDP und SP erneut zum grossen Thema. Meine Folgerung: Tritt bis 2027 kein FDP-Bundesratsmitglied zurück, ist die Chance gross, dass die Grünen einen FDP-Sitz holen.​

Wäre es richtig, wenn die Mitte einen zweiten Bundesratssitz beansprucht im Wissen, dass die Grünen mit 10 Prozent grösseren Anspruch auf einen Sitz haben als die Mitte mit 14,1 Prozent auf zwei Sitze?
Das ist das Dilemma, in dem die Mitte steckt. Im Moment dreht sich die Debatte um den FDP-Sitz. Weil Mitte-Präsident Pfister den FDP-Sitz protegiert, ist Ruhe im Haus. Sonst würden wir jetzt darüber diskutieren, ob dieser Sitz an die Grünen oder an die Mitte gehen soll. Diese Frage wird man aber 2027 wieder stellen – unter anderen Vorzeichen.​

Wie beantworten Sie die Frage?
Die Frage ist, ob man von einem mathematischen Proporzmodell, das sich an der Wähler- und Fraktionsstärke orientiert, oder von einem richtungspolitischen Pol-Modell ausgehen soll. Spätestens 2027 wird diese Frage ernsthaft zum Thema.​

Was bedeutet das Pol-Modell?
Es orientiert sich an den drei Polen Links, Mitte und Rechts. Da die Bundesversammlung wählt, entscheidet de facto die «harte Währung» der Fraktionsstärke (FDP-Präsident Burkart) – sofern die Fraktionen diszipliniert wählen.​

Wie stellen Sie sich diese neue Zauberformel vor?
Zunächst muss sich der Freisinn entscheiden, mit wem er ernsthaft zusammenarbeiten will: mit Mitte oder SVP?​

In der NZZ plädieren die ehemaligen Parlamentsmitglieder Christine Egerszegi, Fritz Schiesser (FDP) und Peter Bieri (Mitte) für eine engere Zusammenarbeit von FDP und Mitte.
Eine gute Zusammenarbeit von FDP und Mitte ist wichtig für die Zukunft der konsensorientierten Schweiz. Die FDP muss sich überlegen, ob sie zur Juniorpartnerin der SVP werden will oder ob sie sich zwischen Mitte und rechtem Pol positioniert und profiliert.​

Wie ist Ihr konkreter Vorschlag?
FDP und Mitte gehen eine engere Zusammenarbeit ein, die sich konkret auch auf ihre Vertretung und Zusammenarbeit im Bundesrat bezieht. Meine Anregung ist eine Rotationsformel. Tritt das nächste FDP-Bundesratsmitglied zurück, geht der Sitz an die Mitte. Tritt später ein Mitte-Bundesratsmitglied zurück, geht der Sitz an die FDP. Damit käme die Mitte – Partei zu ihrer Gleichberechtigung mit der FDP. Und die FDP könnte ihren zweiten Sitz zumindest in die nähere Zukunft retten. Der Zentrums-Pol würde mit drei Sitzen gestärkt. Er könnte im Bundesrat eine Führungsrolle spielen, die ins Parlament ausstrahlt. Dieses Modell gäbe Stabilität für die faktische Dauer Amtsdauer eines Bundesrats, also für rund zehn Jahre. Das ist eine Dekade, in der man etwas gestalten kann.​

Wäre das eine kleine Regierungskoalition?
Nein und ja, es wäre im System der direkten Demokratie eine engere Zusammenarbeit um das Zentrum. Ein Modell im Zauberformel-Modell.​

Was, wenn das Modell nicht funktioniert?
Dann müsste man zum Duo-Pol übergehen, das für Links (SP und Grüne) und Rechts (SVP und FDP) steht. Das würde zur Koalitionsregierung führen, die in der Konsensdemokratie schwierig ist. Linke und Rechte hätten je drei Sitze – und die Mitte-Partei würde mit einem Sitz ihre Bedeutung verlieren.​

Die WOZ schrieb, die Mitte müsse mit Pfister als Kandidat einen FDP-Sitz angreifen. Könnte Ihr Modell kurzfristig eingeführt werden?
Theoretisch wäre dies möglich, ist aber im Moment nicht realistisch. Bundesrat Ignazio Cassis wird nach meiner Einschätzung am 13. Dezember gewählt. Die Zauberformel entstand 1959 mit den Rücktritten von vier Bundesräten – alle in der zweiten Hälfte des Novembers – als Voraussetzung für die Schaffung der Zauberformel. Die helvetischen Mühlen mahlen langsam. Trotzdem dürfen wir über den 13. Dezember 2023 hinausdenken. (aargauerzeitung.ch)

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113 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Weisch na?
27.11.2023 08:11registriert November 2022
Weshalb versucht man nicht, mit einem einfachen Schlüssel die grösstmögliche Vertretung des Volkes im Bundesratssitz sicherzustellen? Ein Bundesratsitz macht 14.3% des Bundesrates aus. Der Partei mit dem höchsten Wähleranteil erhält einen Sitz und von ihrem Anteil werden 14.3% Prozentpunkte abgezogen. Dann gibt man der nun grössten Partei einen Sitz und macht wiederum den Abzug, usw. Damit wären die SVP mit zwei Sitzen und die Parteien SP, FDP, Mitte, Grüne und GLP mit je einem Sitz vertreten. Damit steigt der Prozentsatz der vertretenen Wähler von 74.6% auf 92%.
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sägsäuber
27.11.2023 07:43registriert Oktober 2017
Solange die FDP im Schatten der SVP segelt ist sie auf dem Weg zum Untergang. Schade?
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benn
27.11.2023 08:44registriert September 2019
ich hoffe dass der wähler anteil der wirtschafts lobbypartei fdp weiter sinkt, sie vertreten nicht das volk sondern ausschliesslich die sogenannte wirtschaftselite!
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    Der Verdacht auf Geldwäscherei in der Schweiz hat offenbar deutlich zugenommen. Jedenfalls wuchs die Zahl der Verdachtsmeldungen im vergangenen Jahr um mehr als ein Viertel auf 15'141 im Vergleich zu 2023. 92 Prozent dieser Meldungen stammten von Finanzintermediären aus dem Bankensektor.

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