Frau Freyburg, seit Jahren mäandern die Bilateralen dahin. Warum fällt es der Politik so schwer, da mehrheitsfähige Lösungen zu finden?
Tina Freyburg: Interessanterweise zeigt unsere Befragung, dass Kompromisse durchaus möglich sind. Auch bei Streitpunkten, die bisher als unverhandelbar galten. Vor diesem Hintergrund finde ich es umso erstaunlicher, dass die Politik derart verfahren ist. Aber ja, die EU-Frage ist ein emotionales Thema. In der politischen Diskussion spielen Emotionen eine grosse Rolle, und oft wird mit ideologisch gefärbten Annahmen operiert.
Die Schweizer Bevölkerung ist bei der EU-Frage also gar nicht so gespalten wie angenommen?
Wir untersuchten, wie veränderungsbereit die Schweizerinnen und Schweizer sind, wenn man sie mit ganz konkreten Optionen konfrontiert. Und tatsächlich zeigt sich: Sie sind viel veränderungsbereiter, als wir erwartet haben.
Mit welcher Intention machten Sie sich an die Befragung?
Die Schweiz will kein Rahmenabkommen, in dem alle institutionellen Fragen gebündelt geklärt werden. Die EU wiederum will keine Fortsetzung des bilateralen Weges, ohne diese institutionell einheitlich zu klären. Das ist eine Pattsituation. Wir haben darum versucht, andere Fragen zu stellen.
Und wie?
Wir fragten nicht: «Entweder oder»? Sondern wir liessen auch ein «sowohl-als-auch» zu. Dadurch zeigte sich einerseits, dass der bilaterale Weg sehr beliebt ist. Aber auch, dass ein grosser Teil der Bevölkerung findet, die Schweiz würde von einer EU-Mitgliedschaft profitieren. Das hat uns sehr überrascht.
Also wäre eine EU-Mitgliedschaft die Lösung?
Nein. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Das wäre ein langes Unterfangen und ist auch gar nicht das, was wir propagieren wollen. Uns ist wichtig, aufzuzeigen, dass es Handlungsspielraum gibt. Jenseits eines schweizerischen Sonderwegs. Und jenseits einer EU-Vollmitgliedschaft.
Wofür plädieren Sie also?
Die Tür aufzumachen und die Entscheidungsträger zu ermutigen, nicht notwendigerweise den bilateralen Weg als die Ausgangssituation zu nehmen, sondern sich zu fragen: Was sind denn eigentlich die Interessen, was die Bedürfnisse der Schweiz? Und davon ausgehend zu schauen, was die beste Kooperationsform mit der EU ist.
Und das ist auch für die EU interessant?
In der EU ist derzeit sehr viel in Bewegung. Denken wir an den Brexit, an das schnell ausgesprochene Versprechen an die Ukraine. Die EU sucht nach Möglichkeiten, Partnerstaaten enger an sich zu binden. Auch jenseits einer Vollmitgliedschaft. Für die Schweiz ist jetzt ein gutes Momentum, sich proaktiv einzubringen und über Alternativen der Assoziierung nachzudenken. Das ist es, was ich mir wünschen würde: Dass sich die Schweiz nicht als Gegenspielerin der EU, sondern als gestaltende Partnerin sieht und diese Zeit jetzt nutzt.
In Ihren Befragungen kommen Sie zum Schluss, dass das Freizügigkeitsabkommen der grösste Knackpunkt darstellt. Warum?
Das Hauptproblem sind Ängste, die wenig mit der tatsächlichen Situation zu tun haben. Zum Beispiel die vermeintliche unkontrollierte Zuwanderung. Die gibt es gar nicht. Gerade EU-Bürgerinnen können sich nur in der Schweiz niederlassen, wenn sie einen Job haben und finanziell selbst für sich aufkommen können. Das sind strenge Bedingungen.
Umstritten sind vor allem der Lohnschutz und der Zugang zu den Sozialwerken. Welchen Handlungsspielraum sehen Sie da?
Beim Lohnschutz konnten wir zeigen, dass die Anhängerinnen und Anhänger aller Parteien einverstanden wären, wenn Unternehmen aus der EU einen Auftrag in der Schweiz vier Tage, statt der bisherigen 8 Tage vorab den Schweizer Behörden melden müssen. Um Lohnkontrollen zu ermöglichen und etwaiges Lohndumping zu verhindern. Eine solche Vier-Tage-Frist wäre für die EU wohl eine akzeptable Lösung. Sie ist durch eine Digitalisierung des Meldeverfahrens auch technisch ohne Qualitätsverlust bei den Kontrollen umsetzbar. Es sollte möglich sein, zumindest diesen langjährigen Streit mit der EU in guter Schweizer Manier auf der Basis eines breiten Konsenses zu lösen.
Und bei den Sozialwerken?
Hier zeigen sich die Schweizerinnen und Schweizer absolut pragmatisch. Wenn sie über die Folgen von Schutzmassnahmen aufgeklärt werden, die die Freizügigkeit für EU-Bürger kategorisch einschränken und damit die Zustimmung der EU gefährden, dann sind sie bereit, ihre Zustimmung zu überdenken. Die Befragten erkennen offenbar die Unverhältnismässigkeit dieser Massnahmen gegenüber den wahrscheinlichen Folgen.
Was heisst das?
Sobald wir die Befragten darauf aufmerksam gemacht haben, dass gewisse Lösungen inkompatibel mit der EU wären und das auch ein Nachteil für die Schweiz darstellen würde, waren sie bereit, ihre Entscheidungen zu überdenken. So können Mehrheiten für verhältnismässige Restriktionen gebildet werden. Es gibt einen breiten Konsens darüber, dass ein EU-Bürger, der beispielsweise zehn Jahre in der Schweiz gearbeitet hat und unverschuldet seinen Job verliert, Zugang zu den Sozialversicherungen bekommen soll.
Was ist jetzt Ihre Forderung an die Politik?
Es ist so einfach wie logisch: Brandschutz ist besser als Brandbekämpfung. Politische Brände entstehen, wenn es kein Konzept für die nachhaltige Pflege einer vertrauensvollen Beziehung gibt. Zwar hat die Schweiz verinnerlicht, dass sie einen Preis zahlen muss, wenn sie am Binnenmarkt teilhaben will. Doch scheut sie sich, die eigene Position im Europa-Dossier visionär in die Zukunft zu denken. Indem sie keine pragmatischen Angebote vorlegt, die sich nicht am erodierenden bilateralen Weg orientieren, wird riskiert, dass durch das Auslaufen weiterer Abkommen noch grösserer Schaden angerichtet wird. Und wiederholt feuerlöschende Ersatzmassnahmen wie bei der Teilnahme am Forschungsprogramm notwendig werden.
Was schlagen Sie vor?
Eine vorausschauende Europapolitik sieht anders aus. Die zunehmende Bereitschaft der EU, jenseits einer Vollmitgliedschaft enge Formen der Anbindung anzubieten, öffnet die Tür für kreative Lösungsvorschläge seitens der Schweiz. Statt sich in Detailfragen zu verzetteln, die innenpolitisch gelöst werden könnten, braucht es eine schweizweite, offene Debatte über die Vor- und Nachteile sämtlicher Wege. Es gilt, mit klaren Vorstellungen weitere Verhandlungen mit der EU zu erwirken. Hier würde es sich lohnen, sich konkret anzuschauen, welche Ausnahmen Mitglieder der EU wie beispielsweise Dänemark bereits ausgehandelt haben. Und der Schweizer Stimmbevölkerung eine echte Wahlmöglichkeit zwischen mindestens zwei zu realisierenden Optionen zu bieten.
Das würde mich auch überraschen. 😂
Wenn man sieht, wie von der Leyen oder Merkel und viele andere (ungestraft) mit Demokratie umgehen, sollte man sich hüten allzu nahe an die EU heranzurücken.