Das Verhältnis der Schweiz zur EU ist ein heisses Eisen in der Innenpolitik. Seit Jahren mäandrieren die Bilateralen dahin, während die EU betont, der Status quo sei keine Option mehr. Die Geister der Politikerinnen und Politiker scheiden sich entlang der Parteilinien.
Doch wie sehen es die Einwohner der Schweiz? Wie stehen sie zur EU? Wie würden sie das Personenfreizügigkeitsabkommen gestalten? Wie denken sie über das Rahmenabkommen? Sind sie ebenso gespalten wie die Parlamentarierinnen in Bern?
Diesen Fragen widmete sich das diesjährige Chancenbarometer. Das Ziel der Autorenschaft ist, eine konstruktive Debatte über die politischen Lager hinweg zu erleichtern. Dazu wurden 4349 Personen in der Schweiz befragt. Die Auswertung zeigt: Ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung fühlt sich mit Europa verbunden. Die Schweizer sehen sowohl in den bilateralen Abkommen als auch in einer EU-Mitgliedschaft Chancen.
46 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer vertrauen der EU. Damit ist das Vertrauen in die EU in der Schweiz etwa gleich gross wie in der EU selbst.
Die Schweizer Bevölkerung hält die bilateralen Verträge mit der EU grossmehrheitlich für «wichtig». Die Frage, ob die Schweiz auch von einer Mitgliedschaft profitieren würde, wird kontroverser gesehen. Eine Mehrheit der Bevölkerung steht einem EU-Beitritt der Schweiz skeptisch gegenüber. 38 Prozent sehen Vorteile in einer Mitgliedschaft.
Das Tessiner Stimmvolk entscheidet häufig EU-skeptischer als der Rest der Schweiz. Im Jahr 2000 lehnte es die bilateralen Verträge ab. 2014 unterstützte es die Masseneinwanderungsinitiative am stärksten. Fast ein Drittel der Tessiner sieht dementsprechend weder den Nutzen des bilateralen Weges noch einer etwaigen EU-Mitgliedschaft.
Für die Autorenschaft des Chancenbarometers ist klar: «Für einen europapolitischen Neustart braucht es eine Mehrheit der Stimmbevölkerung und der Kantone. Das Tessin wird eine Schlüsselrolle spielen.»
Dass sich die Menschen innerhalb der EU-Länder frei bewegen können, ist wesentlicher Bestandteil der bilateralen Abkommen. Durch das Freizügigkeitsabkommen erhalten Staatsangehörige der Schweiz das Recht, Arbeitsplatz und Wohnsitz innerhalb der EU frei zu wählen. Und auch EU-Bürger erhalten das Recht, in der Schweiz zu lernen, zu arbeiten und zu wohnen.
In den letzten 20 Jahren war die Freizügigkeit viermal Gegenstand nationaler Abstimmungen. In drei dieser Abstimmungen wurde sie von der Stimmbevölkerung gutgeheissen. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Freizügigkeit für die Rekrutierung dringend benötigter Fachkräfte essenziell für die Schweizer Wirtschaft ist.
Gleichzeitig bestehen in Bezug auf Fragen der Freizügigkeit die grössten Differenzen mit der EU. Innenpolitisch formiert sich hier der grösste Widerstand. Primär geht es um Details zum Lohnschutz und dem Zugang zu den Sozialwerken für EU-Bürger.
Die öffentliche Debatte in der Schweiz legt nahe, dass eine Lösung der strittigen Fragen der Personenfreizügigkeit unrealistisch ist. Doch so gross, wie es dargestellt wird, sind die Gräben gar nicht. Das Autoren-Team des Chancenbarometers stellte sich die Frage, wie ein Freizügigkeitsabkommen mit der EU ausgestaltet werden muss, damit es vor dem Schweizer Stimmvolk Chancen hat.
Die Befragungen zeigen, dass mehr Personen einem Abkommen zustimmen, wenn Schweizer konsequent gegenüber EU-Bürgerinnen bevorzugt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Abkommen in einer nationalen Abstimmung angenommen wird, erhöht sich um 2 Prozent, wenn arbeitslose Schweizerinnen Vorrang haben gegenüber EU-Bürgern bei einer Neueinstellung.
Die Zustimmung für ein Abkommen sinkt, wenn dabei EU-Bürgern der Zugang zu Sozialwerken grundsätzlich verwehrt wird. Ebenfalls weniger Zustimmung bekommt eine Lösung, die eine begrenzte Höchstzahl an EU-Bürgerinnen in der Schweiz vorsieht.
Der gemeinsame Nenner beim Freizügigkeitsabkommen ist über die Parteizugehörigkeit hinaus der Lohnschutz. Da sind sich die Schweizer Stimmberechtigten einig: Um Lohnkontrollen zu ermöglichen, müssen EU-Unternehmen, die in der Schweiz einen Auftrag ausführen, diesen vorab melden.
Die Autorinnen um das Chancenbarometer ziehen eine positive Bilanz: «Die Chancen für eine tragfähige Neugestaltung der Beziehungen zur EU stehen gut.» Die Schweizer würden der EU vertrauen und seien bereit, europapolitische Positionen zu ändern, sobald sie die Folgen kennen würden. «Fast die Hälfte der Schweizerinnen erachtet die bilateralen Verträge als wichtig und sieht die Vorzüge einer EU-Mitgliedschaft.»
Statt sich in Detailfragen zu verzetteln, die innenpolitisch gelöst werden könnten, brauche es nun eine schweizweite, offene Debatte über die Vor- und Nachteile sämtlicher Wege. «Es gilt mit klaren Vorstellungen und einer Vision in die Verhandlungen mit der EU einzusteigen. Und der Schweizer Stimmbevölkerung eine echte Wahlmöglichkeit zwischen mindestens zwei zu realisierenden Optionen zu bieten.»
Machen wir weiter so mit dem Rosinenpicken...