In Basel hat ein psychisch kranker Mörder auf einem bewilligten Ausgang erneut zugeschlagen. Der Fall löst eine nationale Debatte aus. Wie ordnen sie diese ein?
Frank Urbaniok: Es ist schockierend und entsetzlich, was da geschehen ist. Es ist deshalb verständlich, dass viele Gefühle aufkommen und der Fall derart hohe Wellen wirft. Es ist in der ersten Phase nach der Tat, in der wir uns gerade befinden, aber wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren und differenziert Informationen zu vermitteln.
Wie ist dies den Basler Behörden an der Medienkonferenz gelungen?
Sie haben richtig kommuniziert. Im Moment können sie nicht viel mehr machen, als grundsätzliche Abläufe zu schildern. Gleichzeitig ist es natürlich frustrierend, dass man noch nicht mehr Erkenntnisse präsentieren kann. Wenige Tage nach der Tat ist dies aber schlicht nicht möglich. Wir müssen den Behörden jetzt Zeit lassen, den Fall sorgfältig zu analysieren.
Die politische Debatte kann darauf aber nicht warten. Viele Politikerinnen und Politiker haben bereits Forderungen lanciert.
Das ist problematisch. Denn die Politikerinnen und Politiker äussern jetzt einfach jene Forderungen und Einstellungen, die sie schon immer hatten, und projizieren diese auf diesen Fall. Es ist aber genauso falsch, wenn man jetzt sagt, der Fall habe irgendetwas mit Personalmangel in der Psychiatrie zu tun, wie wenn man behauptet, er weise Parallelen zu ähnlichen Fällen in der Vergangenheit auf. Wir müssen jetzt einfach die Aufarbeitung abwarten und Geduld haben. Es kann sein, dass man aus diesem Einzelfall in ein paar Wochen Dinge sieht, die man verbessern muss, vielleicht aber auch nicht. Aber es bringt nichts, jetzt ohne profunde Analyse symbolische Massnahmen zu ergreifen.
Ist die Forderung denn jetzt nicht legitim, dass Ausgänge restriktiver bewilligt werden sollen?
Das ist so eine Standard-Forderung. Aus der aktuellen Betroffenheit kann ich zwar verstehen, dass die Basler Uni-Psychiatrie jetzt kurzfristig alle Ausgänge gestrichen hat. Gleichzeitig sehe ich das aber als Problem, weil dadurch auch Personen betroffen sind, bei denen alles korrekt abläuft und solche Massnahmen mit der Giesskanne kontraproduktiv sind. Sinnvoll ist ein strengerer Umgang mit Ausgängen nur, wenn man wirklich Anhaltspunkte dafür hat, dass im System grundsätzlich etwas faul ist und man jetzt die Reissleine ziehen muss. Ob es solche Anhaltspunkte gibt, müssen die verantwortlichen Fachleute in Basel beurteilen. Aber bislang gibt es keine Hinweise für ein Systemproblem, das alle Fälle betreffen würde.
Die Politiker, die sich bis jetzt zum Fall geäussert haben, sehen Parallelen zu früheren Morden von Tätern auf bewilligten Ausgängen. Warum soll das falsch sein?
Da werden Äpfel mit Birnen verglichen. Die Konstellation des Basler Falls ist sehr speziell: Es ist einer der seltenen Fälle, bei denen eine glasklare psychiatrische Erkrankung vorliegt. Das macht den Rückfall natürlich nicht besser. Aber das unterscheidet den Fall von den zitierten Vergleichsfällen. Die allermeisten gefährlichen Straftäter sind Menschen, die keine eindeutige psychiatrische Erkrankung haben. Sie sind deshalb auch in einem Gefängnis und nicht in einer Psychiatrie.
Das berühmteste Vergleichsbeispiel ist der Mörder und Vergewaltiger Erich Hauert, der 1993 auf einem Ausgang in Zürich eine Pfadfinderin umgebracht hat. Sie, Herr Urbaniok, haben danach ein System für Risikobeurteilungen entwickelt. Warum ist dieser Fall nicht vergleichbar?
Erich Hauert litt nicht an Schizophrenie. Er hatte aber ein hoch ausgeprägtes Risikoprofil, auf das man hätte achten sollen. Doch das hat man damals nicht erkannt. Es gab keine Risikobeurteilung. Aus einer ideologischen Sicht sagte man, jeder Täter habe eine zweite oder eine dritte Chance verdient, und oft auch eine vierte oder eine fünfte. Damals gab es also ein generelles Systemproblem, das man dringend korrigieren musste. Das läuft heute ganz anders.
Warum macht es einen Unterschied, wenn ein Täter eine eindeutige psychische Erkrankung hat?
Weil sich dieser Täter in einem ganz anderen Setting befindet: in einer hoch spezialisierten Umgebung, die genau für solche Fälle und entsprechende Risikobeurteilungen geschaffen worden ist. Ich bin mir da wirklich sicher, dass man mit solchen Fällen heute grundsätzlich nicht naiv wie damals umgeht. Es ist aber auch vollkommen klar, dass wir jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können.
Für die meisten Menschen wird es allerdings keine Beruhigung sein, dass der Basler Mörder Stimmen hörte oder Halluzinationen hatte – im Gegenteil. Deshalb nochmals die Frage: Warum macht das einen so wichtigen Unterschied?
Wenn man klar fassbare Symptome hat, kann man diese mit Medikamenten behandeln. Es ist falsch, zu sagen, psychisch kranke Täter seien besonders gefährlich. Das sieht man an den Rückfallquoten, die sehr tief sind. Aber dies alles ist in so einer Phase wie jetzt natürlich schwierig zu vermitteln.
Sie erwecken den Eindruck, dass Sie Ihr Fachgebiet verteidigen wollen.
In meinem eigenen Fachgebiet gibt es etliche Probleme und Schwachstellen. Ich glaube, ich bin nicht dafür bekannt, solche Dinge nicht anzusprechen und unter den Teppich zu kehren. Aber ich plädiere für sachliche Kritik, die auf Fakten basiert und nicht auf Vorurteilen, Stimmungen oder politischen Schnellschüssen. (aargauerzeitung.ch)
Aber noch weniger als Politiker hält sich der Internet-Mob daran, der sich halt sehr nah an der mittelterlichen Lynch-Mentalität bewegt.
In Anbetracht dessen traut man sich ja kaum, sich für Geduld auszusprechen und auch darauf hinzuweisen, dass selbst trotz schärfster Radikalmassnahmen immer schlimme Dinge passieren werden.
Das bedeutet, dass Massnahmen erst recht besonnen gesucht und getroffen werden müssen, damit diese nicht mehr Leuten schaden als dass sie Nutzen bringen.
M.M.n. müsste dieses Restrisiko praktisch bei Null liegen. Dafür sollte das Leben der Verwahrten (nach Absitzen der regulären Strafe) angenehmer gestaltet werden, als dies heute der Fall ist.