Der Bundesrat hat entschieden, dass es juristisch vorerst kein drittes Geschlecht geben soll. Was hätte sich für Sie verändert, wenn die Entscheidung anders ausgefallen wäre?
Sofia Fisch: Ich hätte meine Geschlechtsidentität endlich sichtbar machen können. Ich möchte nicht mehr länger unsichtbar bleiben. Der Staat soll anerkennen, dass es uns gibt! Ich bin überzeugt, dass die staatliche Anerkennung des dritten Geschlechts das Bewusstsein der Bevölkerung beeinflussen würde. Es würde sicher zu mehr Akzeptanz und Verständnis führen.
Würde sich gesamtgesellschaftlich etwas verändern für nicht binäre Personen?
Ich denke schon. Die Menschen in der Schweiz wären sich bewusst, dass es staatlich anerkannt ist, dass es nicht nur zwei Geschlechter gibt. Das würde sicher zu mehr Akzeptanz und Verständnis führen. Hier ist mir auch wichtig zu erwähnen, dass die Einführung einer dritten Geschlechtsoption die Rechte von niemandem anders einschränken würde. Die weibliche und männliche Option gäbe es ja weiterhin.
Das Warten geht also weiter. Macht Sie das wütend?
Es fühlt sich an wie eine Ohrfeige. Danke für gar nichts! Ich weiss doch selbst am besten, was meine Geschlechtsidentität ist. Und jetzt kommt der Staat und sagt: «Nein, das geht leider nicht.»
Sehen Sie dies als Parteimitglied der Juso pragmatischer?
Es ist klar eine Grund- und Menschenrechtsverletzung. Der Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention schreibt vor, dass das Privatleben der Menschen geachtet werden muss. Das heisst, er gibt uns auch das Recht auf die Wahl der geschlechtlichen Identität.
Der Bundesrat hat Ihrer Meinung nach in seinem Bericht das Völkerrecht missachtet. Ist Ihnen im Bericht des Bundesrates noch etwas anderes aufgefallen?
Ja. Auf den zwanzig Seiten geht der Bundesrat genau in einem einzigen Satz darauf ein, wie sich nicht binäre Personen mit der aktuellen juristischen Lage fühlen könnten.
«Der Bundesrat anerkennt, dass die Binarität der Rechtsordnung für diejenigen Personen, die sich nicht einem der beiden herkömmlichen Geschlechter zuordnen können, in verschiedener Hinsicht zu Schwierigkeiten führen kann.» Meinen Sie diesen Satz?
Genau. Der Bundesrat geht gar nicht darauf ein, was das für uns Betroffene bedeutet. Wir als nicht binäre Personen werden unsichtbar gemacht. Das geht nicht. Sowieso ist der Bericht schluderig. Es gibt keine fundierte Analyse. Der Bericht beweist vor allem eines: das Desinteresse des Bundesrates diesem Thema gegenüber.
«Der Bundesrat ist der Ansicht, dass diese gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung des Geschlechts oder die Einführung eines dritten Geschlechts heute nicht gegeben sind.» Das ist der letzte Satz im Bericht. Sehen Sie das auch so?
Die Formulierung ist bereits falsch. Nicht binäre Personen existieren, ob es dem Bundesrat passt oder nicht. Die Aussage ist zudem völlig schwammig. Welche gesellschaftlichen Voraussetzungen? Dazu sagt der Bundesrat nichts. Er behauptet einfach, dass es für die Einführung einer dritten amtlichen Geschlechtsoption noch «zu früh» ist, ohne zu beweisen, wie er auf diese Aussage kommt. Er geht nicht darauf ein, was die gesellschaftliche Situation derzeit ist – und übersieht, dass der gesellschaftliche Diskurs zu dem Thema bereits existiert. Sonst hätten wir diesen Bericht nicht. Und auch die vorgängigen Postulate hätte es nicht gegeben. In der Gesellschaft werden diese Diskussionen durchaus geführt.
Finden diese Diskussionen nicht einfach in Ihrer Bubble statt?
Ich habe auch ausserhalb der Juso ein Umfeld. Und auch dort wird über die nicht binäre Geschlechtsidentität mit zunehmender Akzeptanz gesprochen. Ich nehme ein gesamtgesellschaftliches Verständnis wahr. Es gibt prominente Beispiele: Kim de l’Horizon hat einen Bestseller geschrieben und zwei Buchpreise gewonnen. In den Diskussionen über «Blutbuch» war die Geschlechtsidentität wichtig. Das zeigt doch, dass das Thema in der Gesellschaft angekommen ist – nicht nur in meiner Bubble.
Also werden nicht binäre Personen mehr gesehen?
Genau. Ich würde nicht mehr von einer reinen Unsichtbarkeit im alltäglichen Leben sprechen. Aber juristisch besteht diese weiterhin.
Der rechtliche Aspekt wird auch im Bericht des Bundesrates betont. Schweizer müssen aktuell Militärdienst leisten, für Schweizerinnen ist dieser fakultativ. Die verschiedenen Leistungen variieren auch je nach Geschlecht. Wo würden Sie dann das dritte Geschlecht einordnen?
Die Anpassung der Rechts- und Gesetzestexte wird Zeit brauchen. Aber für viele nicht binäre Personen ist der Status quo nicht auszuhalten. Sie leiden psychisch massiv unter dieser Diskriminierung. Das geht auch aus einem anderen Bericht des Bundesrates hervor. Deshalb besteht dringender Handlungsbedarf. Solange nicht binäre Menschen im Gesetzeswortlaut nicht aufgeführt werden, sollten die Behörden unterschiedliche Rechte und Pflichten aufgrund des Geschlechts gegenüber nicht binären Personen möglichst diskriminierungsfrei auslegen und bestehende Lücken füllen.
Haben Sie einen Vorschlag?
Zum Beispiel, dass nicht binären Personen die gleichen Ausgleichs- und Förderungsmassnahmen wie Frauen zugesprochen werden, bis die tatsächliche Gleichstellung aller Geschlechter erreicht ist. Ich bin ohnehin für die Abschaffung des Militärs. (lacht) Aber im Ernst: Unsere Nachbarländer Deutschland und Österreich haben auch erfolgreich eine dritte Geschlechtsoption eingeführt. Dort gibt es aktuell sicher auch Unsicherheiten bei der Anpassung der Rechts- und Gesetzestexte. Scheinbar ist es machbar. Aber der Bundesrat ist nicht gewillt, diesen Weg zu gehen.
Fretless Guy
Wieso nicht die der Männer? Könnte es sich hierbei gar am Ende um Rosinenpickerei handeln? Wo und wieso genau besteht denn Förderungsbedarf von nicht binären Personen?
Wieso erstaunt wohl niemand, dass solche Forderungen von der Juso kommen?
daene
Walser