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Mehr Pensionierte beziehen Kapital – Bundesrat wird Trick vorgeworfen

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Immer mehr Pensionierte beziehen Kapital: «Bundesrat bedient sich eines Buebetricklis»

Die Pensionierten sollen nicht für die Entlastung des Bundeshaushaltes herhalten, sagt Lukas Müller-Brunner, Direktor des Pensionskassenverbands ASIP, im Interview. Dieser positioniert sich klar gegen eine höhere Besteuerung des Kapitalbezugs in der Zweiten Säule.
17.03.2025, 09:5517.03.2025, 09:55
Anna Wanner / ch media
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Die Scherben der dritten gescheiterten Pensionskassenreform liegen noch am Boden. Aber niemand hat Lust, sie zusammenzukehren. Wie geht es weiter? Und wieso erhärtet sich der Eindruck, dass die Leistungen der zweiten Säule unseres Vorsorgesystems nachlassen? Lukas Müller-Brunner, Direktor des Schweizerischen Pensionskassenverbands ASIP, widerspricht: Die soziale Sicherheit werde sich im Alter verbessern.

Der Bundesrat will den Kapitalbezug in der zweiten Säule höher besteuern. Sollen die Pensionierten für die Entlastung des Bundeshaushalts zahlen?
Der Bundesrat will den Kapitalbezug in der zweiten Säule höher besteuern. Sollen die Pensionierten für die Entlastung des Bundeshaushalts zahlen?Bild: Andrea Zahler

Herr Müller-Brunner, nach dem deutlichen Nein zur Pensionskassen-Reform im Herbst: Wie tief sitzt der Frust?
Lukas Müller-Brunner:
Das Nein ist einerseits eine verpasste Chance. Das Gesetz über die berufliche Vorsorge stammt aus dem Jahr 1985. Mit der Reform hätten wir es modernisieren und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen können. Andererseits ist es ein Volksentscheid, den wir selbstverständlich respektieren. Die Welt geht deswegen nicht unter. Viele Pensionskassen haben reagiert und ihre Vorsorgepläne angepasst.

Im Parlament herrscht wenig Lust auf eine neue Reform. Welche Änderungen braucht es noch?
Diese Einschätzung teile ich. Und wir stellen fest: Alle drei Versuche, das Gesetz den neuen Lebensumständen anzupassen, sind gescheitert. Jetzt nochmals dasselbe zu versuchen, wäre eine Zwängerei. Zudem lassen sich gewisse Themen wie beispielsweise die Digitalisierung ohne Gesetzesänderungen umsetzen.

Lukas Müller-Brunner, Direktor des Pensionskassenverbands ASIP
Lukas Müller-Brunner, Direktor des Pensionskassenverbands ASIPBild: zvg

Doch die Probleme bleiben bestehen. Der Grund für allgemein tiefere Frauenrenten liegt einzig an der Differenz bei den Pensionskassenrenten. Wie lässt sich der Pension-Gap ohne Reform ausbügeln?
Der Grund für den Unterschied ist nicht das Geschlecht, sondern unterschiedliche Erwerbsbiografien. Personen, die ähnlich verdienen, haben eine vergleichbare Rente. Aber es stimmt: Gerade das Erwerbsleben von Frauen, die jetzt pensioniert werden, war stark geprägt von Unterbrüchen und Teilzeitarbeit. Und das schmälert zwangsläufig die Rente.

Zur Person
Seit zwei Jahren ist Lukas Müller-Brunner (1982) Direktor des Schweizerischen Pensionskassenverbands ASIP. Der Verband vertritt mehr als 900 Pensionskassen und damit rund zwei Drittel der Versicherten in der beruflichen Vorsorge in der Schweiz. Zusammen verwalten sie ein Vorsorgevermögen von gegen CHF 650 Milliarden Franken.

Wie lässt sich das auffangen?
Ich sehe zwei Hebel: Zum einen ist der Arbeitsmarkt vielschichtiger geworden. Aufgrund des Fachkräftemangels gibt es ein grösseres Angebot auch an Teilzeitstellen. Der zweite Hebel liegt bei den Pensionskassen: Die meisten Kassen haben reagiert und ihre Vorsorgepläne so angepasst, dass insbesondere tiefe Einkommen aus Teilzeitanstellungen besser versichert sind.

Ungelöst ist weiter der gesetzlich festgelegte Mindestumwandlungssatz, der nicht mehr den Lebenserwartungen und dem Zinsumfeld entspricht. Wie lösen die betroffenen Pensionskassen dieses Problem?
Bei Pensionskassen, die sehr nahe am Obligatorium sind, findet eine Ernüchterung statt: Sie wissen, dass sich an ihrer Situation so bald nichts ändern wird. Sie rechnen nach meinen Informationen nicht mehr mit einer Reform.

Was bedeutet das?
Entweder die Pensionskassen finden einen Weg, die überhöhten Renten quer zu subventionieren. Oder sie müssen in den überobligatorischen Bereich ausweichen, wo sie nicht mehr an die gesetzlichen Mindestvorgaben gebunden sind und die Parameter an Lebenserwartung und Zinsumfeld anpassen können. Das bringt aber Kosten für Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit sich.

Das heisst: Die Betroffenen werden besser versichert, zahlen mehr ein, damit die Pensionskasse den Umwandlungssatz senken kann?
Genau. Pensionskassen können im Überobligatorium einen grösseren Teil vom Lohn versichern oder Löhne miteinschliessen, die per Gesetz nicht vorgesehen sind. Die Pensionskassen senken den Umwandlungssatz nicht, weil sie ihn unbedingt senken wollen, sondern weil sie die Renten sonst nicht finanzieren können. Ohne diese Massnahme müssten die Jüngeren die Renten der älteren Versicherten mitfinanzieren. Das gilt es zu vermeiden.

Vor 40 Jahren wurde das BVG eingeführt. Wie stark hat sich die finanzielle Absicherung im Alter verändert?
Das 40-Jahr-Jubiläum ist insofern symbolisch, als die gesetzliche Versicherungsdauer von 25 bis 65 geht, also 40 Jahre dauert. Das heisst: 2025 gehen die ersten Jahrgänge in Pension, die übers ganze Erwerbsleben obligatorisch versichert waren und so die volle Beitragsdauer erfüllten. Zwar gab es schon vor dem gesetzlichen Obligatorium Pensionskassen. Doch jetzt können wir erstmals davon ausgehen, dass sämtliche Leute, die pensioniert werden, die volle Wirkung des Alterssparens erhalten. Das wird die soziale Sicherheit im Alter massgeblich verbessern.

ARCHIV - 23.03.2012, Berlin: Knapp 40 Prozent aller Brandenburgerinnen gehen vorzeitig in Rente. Bei den M
Aktuell geht die erste Generation von Erwerbstätigen in Pension, die über eine zweite Säule verfügen.Bild: keystone

Die Diskussion über die letzte Reform hat gezeigt: Das Vertrauen in die zweite Säule bröckelt. Wieso?
Das sehe ich anders. Es gibt zwar Akteure, die bewusst oder unbewusst mit diesem Vertrauen spielen und die berufliche Vorsorge schlechtreden. Dabei wird jedoch unterschlagen, was die zweite Säule gerade in den letzten Jahren geleistet hat: Wir erlebten eine Pandemie, gefolgt von einem Krieg in der Ukraine mit massiven Unsicherheiten auf den Finanzmärkten. Die Pensionskassen trotzen diesem Sturm und beweisen, dass sie über einen langen Zeitraum nicht nur die Renten finanzieren, sondern diese auch für die Zukunft sicherstellen können.

Der sinkende Umwandlungssatz bedeutet eine Kürzung der monatlich ausbezahlten Renten. Nehmen die Leistungen der Pensionskassen ab?
Das ist ein Trugschluss. Die Menschen leben deutlich länger als noch vor dreissig, vierzig Jahren. Das ist für uns alle eine gute Nachricht. Für das System bedeutet es: Einmal versprochene Leistungen müssen über einen viel längeren Zeithorizont ausbezahlt werden. Diesem Anspruch werden die Pensionskassen gerecht, denn sie zahlen mehr Renten und sie zahlen diese Renten deutlich länger. Gleichzeitig müssen die Kassen auf die gestiegene Lebenserwartung so reagieren, dass sie bloss Leistungen versprechen, die realistischerweise eingehalten werden können.

Ausdruck der Skepsis gegenüber der zweiten Säule ist eine Zunahme der Kapitalbezüge.
Das werte ich nicht als Misstrauensvotum. Es ist eine legitime Möglichkeit jeder versicherten Person, frei zu entscheiden, ob sie sich das Geld auszahlen lassen, eine Rente beziehen oder eine Mischform wählen will.

Wissen Sie, warum Kapitalbezüge zunehmen?
Der sinkende Umwandlungssatz im Überobligatorium kann zwar einen Einfluss haben. Wir sehen aber auch, dass es beispielsweise einfacher geworden ist, selber Geld anzulegen. Insgesamt macht mir die Entwicklung aber Sorgen.

Warum?
Vorab: Es gibt gute Gründe für einen Kapitalbezug, etwa wegen schlechter Gesundheit oder Erwerb von Wohneigentum. Wenn aber die Person von jemandem beraten wird, der gleichzeitig eine Kapitalanlage anbietet und damit Geld verdienen kann, bin ich skeptisch. Die Grenze zum Interessenkonflikt ist nahe. Zudem ist bei einem Kapitalbezug zu bedenken, dass die bis zum Lebensende garantierte Rentenzahlung wegfällt. Wer das Kapital bezieht, übernimmt also ein Risiko, das sonst die Pensionskasse trägt. Damit fährt man in den seltensten Fällen besser.

Das ist letztlich nicht mehr das Problem der Pensionskasse.
Solche Entscheide können aber langfristig auf die Gesellschaft zurückfallen. Wenn sich jemand verkalkuliert hat und mit 75 kein Geld mehr hat, wird in unserem Sozialstaat niemand sagen: Du hast das Risiko gewollt, jetzt schaust du selbst. Der Staat wird für diese Fälle ein Auffangnetz anbieten müssen, und das ist auch richtig.

Soll der Kapitalbezug verboten werden?
Keinesfalls, das wäre verkehrt. Es gibt ja gute Gründe, Kapital zu beziehen.

Der Bundesrat bietet eine Alternative: Er schlägt vor, den Kapitalbezug in der zweiten Säule höher zu besteuern. Wäre dies der Ausweg?
Nein. Der Bundesrat bedient sich hier eines «Buebetricklis». Den Vorschlag macht die Regierung ja nicht, weil sie die Zunahme an Kapitalbezügen problematisch findet, sondern weil sie ein Entlastungspaket geschnürt hat. Ich finde es fahrlässig, dass die Regierung nun die Pensionskassengelder zum Bauernopfer macht, um den Bundeshaushalt zu sanieren. Wir können jederzeit diskutieren, welchen Einfluss die Besteuerung auf den Entscheid hat, ob jemand in der zweiten Säule Rente oder Kapital bezieht. Aber dann müssen wir das aus der Vorsorgeperspektive tun.

Wer Rente bezieht, zahlt Einkommenssteuern. Der Kapitalbezug hat steuerliche Vorteile.
Tatsächlich sehen wir in Umfragen bestätigt, dass Steuern ein Faktor sind, wieso Kapital bezogen wird. Das ist unbestritten. Hingegen ist die Herangehensweise falsch, gerade auch weil verschiedene Kantone die Steuern beim Kapitalbezug sogar gesenkt haben. Das Vorgehen ist nicht abgestimmt. Weil das Pferd gleich mehrfach falsch aufgezäumt ist, lehnt der ASIP die Höherbesteuerung des Kapitalbezugs dezidiert ab.

Die Pensionskassen verfügen über gute Kapitalanlagen und hohe Deckungsgrade: Können die Leistungen jetzt verbessert werden?
In vielen Fällen, ja. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Wir sind in den letzten zwanzig Jahren von mehreren Finanzkrisen, Corona und Krieg in Europa durchgeschüttelt worden. Und trotzdem sind die Pensionskassen weitgehend in der Lage, die Renten länger auszubezahlen, gute Anlageergebnisse auszuweisen und sie an die Versicherten weiterzugeben.

Was heisst das konkret?
Über den Daumen gepeilt: Von drei Franken Rente, die ausbezahlt werden, kommt einer vom Arbeitnehmer, einer vom Arbeitgeber und einer aus der Rendite. Das ist besonders für die Arbeitnehmer ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis. Über 5,5 Millionen Versicherte in der Schweiz dürfen froh sein, dass es den Pensionskassen so gut geht.

Wie können die Versicherten von der Situation profitieren?
Es gibt keine Lösung, die für alle Pensionskassen passt. Ich sehe, dass viele Pensionskassen eine deutlich höhere Verzinsung an die Versicherten weitergeben, vereinzelt werden auch die Renten erhöht. Dieses Gleichgewicht muss man kassenindividuell entscheiden, um die verschiedenen Generationen möglichst gleich zu behandeln.

Angesichts der internationalen Turbulenzen besteht die Sorge, das Altersvermögen der AHV könnte gefährdet sein. Befürchtet wird, dass die USA im Falle von Sanktionen Vorsorgegelder zurückhalten könnten, weil die neue Depotbank der AHV in den USA ist. Die Pensionskassen verwalten bekanntlich noch viel mehr Geld. Sind die Vorsorgevermögen gefährdet?
Das ist eine politische Nebelpetarde, die mich wirklich stört. Das ist genau ein Beispiel dafür, wie das Vertrauen in die Vorsorge untergraben wird.

Worum geht es denn?
Wie die AHV hat jede Pensionskasse eine Depotbank. Sie liefert eine wichtige Dienstleistung, indem sie die Anlagetitel der Pensionskassen administrativ verwaltet. Sie kann aber weder über Investitionen entscheiden noch Gelder ins Ausland transferieren. Den Leuten zu Unrecht einzureden, dass die Pensionskassenvermögen nicht sicher sind, ist ein Angriff auf die zweite Säule, einen wichtigen Pfeiler des Schweizer Wohlstands.

Auch punkto Anlagen stehen die Pensionskassen in der Kritik, sie würden den Mietermarkt anheizen. Verlangen sie für gute Ergebnisse zu hohe Mieten?
Ich finde es schade, wenn Pensionskassen in denselben Topf geworfen werden wie ein Immobilienhai, der auf überhöhte Renditen schielt. Das ist ein verzerrtes Bild. Vielmehr haben sich viele Pensionskassen, die langfristig in Immobilien investiert sind, der Nachhaltigkeit verpflichtet: Sie investieren zum Beispiel in ökologische Heizungen oder übernehmen soziale Verantwortung, indem sie auf Leerkündigungen verzichten. Die pauschale Kritik ist also schlicht falsch.

Pensionskassen bekennen sich zu Nachhaltigkeit, befolgen ESG-Standards bei Anlagen. Diese nehmen Rücksicht auf Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Ist das mehr als nur ein Feigenblatt?
Mit ihren Anlagekonzepten sind die Pensionskassen verpflichtet, die Renten der Zukunft zu finanzieren. Sie sind frei im Entscheid, ob sie bei ihren Investitionen zusätzlich Nachhaltigkeitsstandards übernehmen wollen. Wir stellen fest, dass das Interesse in den letzten Jahren deutlich steigt. Mehr als die Hälfte der Pensionskassen setzen freiwillig solche Standards um. Dieser Gestaltungswille ist ein Paradebeispiel für die funktionierende Selbstregulierung einer Branche, die föderal und sozialpartnerschaftlich organisiert ist. (aargauerzeitung.ch)

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189 Kommentare
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Zach Rice
17.03.2025 10:14registriert Januar 2025
Eine obligatorische Versicherung zu willkürlichen Konditionen, die sowohl intransparent als auch nicht sicher gewährleistet sind, wobei die Versicherten nicht die Wahl haben, ist schon ein abenteuerliches Konstrukt.
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Raketenwissenschaftler
17.03.2025 10:32registriert Januar 2023
Bei einem umhüllenden Umwandlungssatz von 5.x % und einer erwarteten Kapitalmarktrendite von 5.x % kann der Kapitalbezüger locker von den Erträgen leben anstatt von der Rente. Das dürfte der Grund für den Kapitalbezug sein.
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sephiran
17.03.2025 10:05registriert September 2015
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189
    Bundesgericht weist Staatssekretariat für Migration in die Schranken
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