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Du willst nur das Beste? Voilà:
Können Sie als Politikforscher die Frustration der «parteilosen» Linksliberalen nachvollziehen?
Michael Hermann: Der Wunsch nach einer linksliberalen Partei ist eine alte intellektuelle Sehnsucht. In den 1990er Jahren war ich selber Teil einer Gruppe, die mit der Gründung einer solchen Partei liebäugelte. Wir steckten genau in diesem Dilemma. Später habe ich immer wieder Leute getroffen, die mir von ähnlichen Ideen erzählten, meist aus dem akademischen Milieu. Am Ende war nie jemand bereit, die Knochenarbeit zu leisten. Es ist angenehmer, Politik zu kommentieren, als Parteipolitik zu machen. Wer dies trotzdem wollte, trat in eine bestehende Partei ein.
Sind die Linksliberalen zu anspruchsvoll? Sie denken eigentlich pragmatisch, in der Politik aber suchen sie einen Idealzustand.
Sie wollen eine Partei, hinter der sie voll stehen können. Aber Parteien müssen eine gewisse Breite abdecken, wenn sie Wähleranteile gewinnen wollen. Man nennt das Realpolitik.
Eine neue Partei ist undenkbar?
Martin Bäumle hat eine gegründet. Es wäre absurd, noch einmal etwas neues zu versuchen. Die Parteienlandschaft ist bereits zersplittert. Die Grünliberalen sind noch nicht endgültig festgelegt, sie können sich entwickeln. Wer linksliberale Politik machen will, sollte seine Sichtweise bei ihnen einbringen.
Frustrierte Linksliberale sollten folglich GLP wählen?
Eigentlich ist es verheerend für die Grünliberalen, dass man bei dieser Frage nicht sofort an sie denkt. Sie decken einen grossen Teil dieses Spektrums ab. Auf nationaler Ebene sind sie die einzige Mitte-links Partei, abgesehen von der EVP. Selbst in der Sozialpolitik sind sie etwas linker als die CVP. Es gibt kein Themenfeld, in dem sie rechts von der CVP oder der BDP wären.
Und wenn man sie trotzdem als zu rechts betrachtet?
Dann soll man SP wählen. Allzu weit entfernt von i h r kann man in diesem Fall nicht sein.
Man verspürt im linksliberalen Milieu häufig eine gewisse Enttäuschung über die Grünliberalen. Was machen sie falsch?
Sie haben einen sehr technokratischen Politzugang. Wer sozial- oder geisteswissenschaftlich geprägt wurde, fremdelt ein wenig mit dieser in den Natur- und Ingenieurwissenschaften verwurzelten Partei.
Was raten Sie ihr?
Sie sollte sich vermehrt darum bemühen, ein Gegengewicht zur nationalkonservativen Schweiz zu bilden. Sie müsste einen Diskurs führen wie einst der Zürcher Stadtpräsident Elmar Ledergerber oder heute der neue SP-Nationalrat Tim Guldimann. Die GLP verpasst es, eine Sammelbewegung für Wähler aus dem linksliberalen Spektrum zu bilden. Sie könnte auch bei der CVP Leute abholen, die ausserhalb des Kantons Zürich ihre sozialliberale Ausrichtung kaum noch pflegt.
Was ist mit SP und FDP?
Sie haben sich davon weitgehend verabschiedet. Ausser man verfolgt vor allem seine persönliche Karriere, dann hat man als Linksliberaler gerade in der SP immer noch Platz.
Sie denken an erfolgreiche Leute wie Pascale Bruderer oder Daniel Jositsch.
Jositsch hat bei den Ständeratswahlen praktisch sämtliche SP-Stimmen geholt, obwohl er sich in der Sicherheitspolitik am rechten Rand der Partei bewegt. Man erlaubt diesen Leuten, Karriere zu machen, ist sogar froh um sie, aber sie dürfen keinesfalls auf die Seele der Partei einwirken wollen.
Sie haben bereits vor fünf Jahren in Ihrer «Tages-Anzeiger»-Kolumne festgestellt, dass die etablierten Parteien sich geradezu vom linksliberalen Spektrum distanzierten.
Bei SP und FDP ist dies seit einiger Zeit stark spürbar. In den 00er Jahren kam die Gegenreaktion auf die Annäherung dieser Parteien in den 90er Jahren, die unter anderem zur «Koalition der Vernunft» in der Stadt Zürich geführt hatte. Das war aber nur eine Liaison auf Zeit, denn die beiden Parteien sind natürliche Kontrahenten. Bei der SP kamen die Erfahrungen mit Gerhard Schröder und Tony Blair hinzu, die teilweise die linke Kernbasis vertrieben haben, vor allem in Deutschland. SPD und Labour hatten Schröder und Blair nur geschluckt, weil sie so lange von der Macht ausgeschlossen waren. Eigentlich hätte man lieber die sozialdemokratische Seele massiert.
Mit der Wahl von Jeremy Corbyn zum Labour-Vorsitzenden ist dies geschehen?
Auf der linken Seite pflegt man häufig lieber die reine Lehre, statt an der Macht zu sein und Kompromisse einzugehen. Erst nach langen Ohnmachtsphasen werden Machtmenschen wie Schröder akzeptiert. In der Schweiz baut sich dieser Druck nie auf, weil man mit dem permanenten Widerspruch leben kann. Man kann auf Parteiebene die reine Lehre praktizieren und hat die beiden Bundesratssitze trotzdem auf sicher. Pragmatiker wie Jositsch werden akzeptiert, so lange sie parteipolitisch die Klappe halten.
Was ist mit der FDP?
Es hat ihr geholfen, dass sie rechts der Mitte wahrgenommen wird. Wenn alle sich als Mitteparteien bezeichnen, tut sich dort eine Lücke auf. Es wäre ein Fehler, sich nach links zu öffnen, obwohl das von gewissen Leuten immer wieder gefordert wird.
Am letzten Versuch in diese Richtung, dem Projekt Avenir radical von 2003, waren Sie als externer Berater beteiligt. Es war ein Fehlschlag.
Ich war wohl der Linksliberalste in dieser Gruppe, habe aber ironischerweise am meisten darauf hingewiesen, dass es ein Fehler ist, sich in diese Richtung zu bewegen.
Die FDP hatte früher prägnante linksliberale Persönlichkeiten. Hat ihr Verschwinden die Ausrichtung nach rechts begünstigt?
Sie hatten keinen Platz mehr in der Partei. Ausserdem haben sich die Milieus verändert. Früher waren die Lehrer und Professoren freisinnig, heute wählen sie links.
Wer vom Staat besoldet wird, wählt links, weil die FDP gerne beim Staatspersonal spart.
Der Links-Rechts-Gegensatz hat sich verlagert, er findet nicht mehr zwischen Arbeiterklasse und Oberschicht statt, sondern zwischen staatlichem und nichtstaatlichem Sektor. Oder zwischen dem Kultur- und dem Finanzsektor. Deshalb hätte sich eher die SP in eine linksliberale Richtung bewegen können, aber aus den genannten Gründen hat sie es nicht gemacht.
Die Erfolge von Pascale Bruderer, Mario Fehr oder Daniel Jositsch zeigen aber, dass linksliberale Persönlichkeiten gefragt sind.
Es gibt schon auch Gegenbeispiele wie Paul Rechsteiner. Man muss sich aber bewusst sein, dass seine Wahl in den Ständerat im Kanton St.Gallen in erster Linie eine Klatsche für Toni Brunner war, den er geschlagen hat.
Bei schwachen Gegnern gewinnt auch ein strammer Linker wie Rechsteiner oder Richard Wolff in der Stadt Zürich?
Genau, oder wenn die Bürgerlichen zerstritten sind. Das ist aber immer seltener der Fall. So sind dieses Jahr bei den Regierungsratswahlen in Baselland und Luzern die SP-Kandidaten durchgefallen, weil sie zu wenig Ausstrahlung in die Mitte hatten.
Warum melden sich Fehr und Jositsch jetzt mit der Forderung, die SP müsse sich für Sozialliberale öffnen?
Nach Schröder/Blair und der Finanzkrise hatte die Parteilinke Auftrieb. Selbst WEF-Gründer Klaus Schwab hat damals gesagt, der Kapitalismus sei in der Krise. Jetzt aber musste die SP eine Welle von erfolglosen Initiativen hinnehmen, und auch bei den Wahlen kam sie nicht vom Fleck. Deshalb spüren die Linksliberalen den Frühling. Ich weiss aber nicht, ob ihr Vorgehen zielführend ist.
Weshalb?
Die SP kann kaum aus ihrer linken Ecke herauskommen, besonders wenn die Politik in den nächsten Jahren rechtslastiger wird. Der SP-Mainstream könnte aber durchaus von Daniel Jositsch lernen. Wie schafft er es, dermassen positiv wahrgenommen zu werden? Viele SPler erreichen kaum Leute jenseits ihrer Kernbasis. Die SP darf selber nicht in die Mitte, aber sie muss dort als vernünftiges Korrektiv wahrgenommen werden.
Was ist mit den anderen Parteien? Die CVP ist wie die FDP nach rechts gerückt.
Sie ist kompakter geworden. Den ganz rechten Flügel hat sie weitgehend an die SVP verloren. Der liberal-soziale Flügel ist auf nationaler Ebene im Aussterben begriffen, er besteht praktisch nur noch aus den beiden Zürcher Nationalrätinnen Barbara Schmid-Federer und Kathy Riklin. Die CVP ist eine eingemittete bürgerliche Partei, die dem Zeitgeist entsprechend noch mehr nach rechts tendieren dürfte. Aber eigentlich weiss sie selber nicht genau, wofür sie steht.
Und die BDP?
Parteipräsident Martin Landolt zielt auf die Mitte-links-Wähler und kommuniziert entsprechend. Aber die BDP steht irgendwo zwischen FDP und CVP. Sie ist eine Landpartei, die sich häufig für Strukturerhaltung einsetzt, etwa in der Landwirtschaft, und sehr armeefreundlich politisiert. Und seit der Aufnahme der Waadtländer Kinderschützerin Christine Bussat fährt sie auch beim Strafrecht eine harte Linie. Sie ist ganz anders situiert als die Linksliberalen.
Hat die BDP den falschen Präsidenten?
GLP-Chef Martin Bäumle redet manchmal wie ein halber SVPler, obwohl seine Partei linksliberal ist. Bei Martin Landolt ist das Gegenteil der Fall. Eigentlich müssten sie den Job tauschen ...
Landolt will die BDP als progressive bürgerliche Kraft etablieren. Eine Mission impossible?
Die BDP ist Teil der undogmatischen, lösungsorientierten Mitte und damit für Linksliberale durchaus wählbar. Aber ihre Positionen liegen deutlich weiter von diesem Spektrum entfernt als jene der Grünliberalen.
Bei denen man die Nestwärme vermisst.
Ihnen fehlt ein positiver Diskurs, der Hoffnung und Optimismus ausstrahlt. Sie wirken häufig wie sparwütige Erbsenzähler. Aber auch Linksliberale müssten daran interessiert sein, Doppelspurigkeiten in den Verwaltungen zu eliminieren, wenn sie ihren Standpunkt ernst nehmen. Sonst kann man gleich SP wählen.
Der Solothurner CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt hat eine neue Partei «Die Moderaten» vorgeschlagen, bestehend aus CVP, BDP und GLP. Wäre das ein Weg?
Die Idee ist reizvoll, aber es passen kaum alle dort hinein. Der KMU-Flügel der CVP oder die sehr bürgerlichen Berner in der BDP lassen sich darin kaum integrieren. Das macht auch nichts, denn nötig wäre eigentlich eine Neusortierung in der Mitte. Die Leute sind teilweise falsch auf die Parteien verteilt. Dadurch verzetteln sich die Kräfte.
Sie schlagen einen Umbau des Parteiensystems vor?
Die Grünliberalen könnten mit Sozialliberalen aus anderen Parteien ergänzt werden, dann wären sie eine breitere Partei. Das ist besser als eine Neugründung auf der grünen Wiese. Der Zuger CVP-Nationalrat Gerhard Pfister passt dort nicht hinein, er könnte aber in einer erweiterten FDP Aufnahme finden. Oder auf dieser Seite könnte eine neue gewerbliche Mittepartei entstehen.
Als Fazit könnte man sagen: Die Linksliberalen haben ein Luxusproblem.
Sie leben schon in einer Art linksliberalem Paradies. Die gesellschaftliche Öffnung ist weit gediehen, die Schweiz wird immer internationaler und urbaner. Nur wenige wollen das noch beschleunigen, vielen geht es fast schon zu weit, etwa bei der Zuwanderung. Daraus entsteht eine gewisse Ermüdung, eine Orientierungslosigkeit. Die gleichen Leute, die Zürich früher als zwinglianisch und eng empfanden, beklagen sich heute über zu viele Partys (lacht).