Das Coronavirus ist wieder auf dem Vormarsch. Am Mittwoch vermeldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) 193 Neuinfektionen. Am Dienstag waren es 132. Am Samstag finden Feiern zum 1. August statt.
Viele offizielle Anlässe wurden abgesagt, die Party verschiebt sich ins Private. Zuletzt kam es aber gerade an Geburtstags- und Familienfesten vermehrt zu Ansteckungen. Der Kanton Thurgau mahnt deshalb zur Vorsicht. Händeschütteln, Küsschen oder Umarmungen sollten vermieden und Hygieneregeln eingehalten werden. Auch das BAG interessiert sich neu für Infektionen an privaten Festen und hat sie als Analysekategorie aufgenommen, wie es auf Anfrage von CH Media heisst.
Kantonsärztepräsident Rudolf Hauri spricht im Interview über private Feste und das Virus. Und er stellt ein neues Problem bei der Rückverfolgung von Infektionen fest.
Rudolf Hauri, im Kanton Thurgau gab es viele Ansteckungen an Privatpartys. Sind sie ein Problem?
Rudolf Hauri: Das Phänomen ist auch in anderen Kantonen zu beobachten, in Genf etwa oder im Kanton Zug, wo ich Kantonsarzt bin. Private Anlässe können bei der Übertragung des Virus eine Rolle spielen.
Wie kann man sich an solchen Festen anstecken?
Die Übertragung geschieht über die Atemwege. Man kommt sich näher oder trinkt aus der gleichen Flasche.
Kann man sich durch einen Schluck aus der Bierflasche anstecken?
Es gibt noch keine eindeutigen Studien, aber erste Hinweise. Es geht nicht um die Flüssigkeit, sondern um den Flaschenhals. Das Virus ist an Oberflächen nachweisbar und könnte in den Rachen gelangen, wenn man aus der Flasche einer infizierten Person trinkt. Einzelne Patienten haben die Vermutung geäussert, dass sie sich so angesteckt haben.
Das Wetter ist gut, die 1.-August-Feiern dürften draussen stattfinden. Dort sind Ansteckungen aber selten, oder?
Tatsächlich geschehen die meisten Ansteckungen drinnen. Mir sind aber auch Fälle bekannt, in denen Personen draussen eng zusammen gesessen sind und sich eben ein Bier geteilt haben.
Offizielle Feste mit Schutzkonzept wurden abgesagt. Private finden statt — oft ohne Schutzkonzept. Ist das nicht widersinnig?
Das ist nicht so eindeutig. Private Feiern haben den Vorteil, dass eine gewissen soziale Kontrolle stattfindet. Die Teilnehmer kennen sich meist und achten vielleicht sogar besser aufeinander als an einem grossen anonymen Fest. An einem solchen hält man vielleicht weniger Abstand, weil man die anderen weniger als Persönlichkeiten wahrnimmt. Das könnte dazu führen, dass es insgesamt weniger Übertragungen an privaten Festen gibt, zumal diese viel weniger Personen umfassen. Ich gehe davon aus, dass sich Menschen, die nicht ganz sicher sind, ob sie gesund sind, vielleicht auch eher an ein öffentliches Fest gehen, als zum Beispiel der Einladung der eigenen Eltern zu folgen.
Aber nach ein paar Bier und einem gemeinsam verbrachten Abend im Freundeskreis rückt man eher zusammen?
Das ist so. Der Alkohol führt dazu, dass man die Regeln eher bricht, das kann aber an einem grossen Fest genauso passieren. Es gibt eben im Umgang mit Corona keine Patentlösung. Wenn alle den Abstand einhalten, gibt es kaum Übertragungen, aber es ist illusorisch, dass sich alle immer überall daran halten.
Viele verzichten aufs Küssen, umarmen sich aber. Ist eine Umarmung sicherer als Küsschen?
Der Abstand wird bei einer Umarmung genauso unterschritten wie beim Küssen. Die Hauptproblematik bleibt: Die Atemwege kommen sich nahe. Bei jedem Atemzug verteilen sich Partikel. Die Ansteckungsgefahr nimmt mit Nähe exponentiell zu. Hinzu kommt, dass eine infizierte Person bestimmt auch Viren an den Kleidern hat. Berührt man diese mit der Hand und fasst sich danach ins Gesicht, kann man sich zumindest in der Theorie anstecken.
Die aktuelle Zahl der Ansteckungen pro Tag ist wieder bei knapp 200. Wo stecken sich die Leute an?
Wir stellen tatsächlich eine Zunahme der Übertragungen fest. Sie geschehen in Clubs und bei anderen Freizeitaktivitäten. Ein guter Teil der Fälle wird durch Reisenden verursacht, die sich im Ausland angesteckt haben. Es ist aber schwierig, das auseinanderzuhalten. Wir haben festgestellt, dass Infizierte von Reisen zurückkommen und dann in den Club gehen, wo sich weitere infizieren. Das gibt es alle Kombinationen.
Reisende, die in Clubs gehen. Also sind die Jungen im Moment die Treiber der Epidemie?
Ja, es sind die jungen Erwachsenen. Im Moment stecken sich viele Personen im Alter zwischen 20 und 40 an.
Die ältere Generation läuft wegen jungen Clubgängern Gefahr, sich wieder einschränken zu müssen.
Von den Jungen ist nun Solidarität gefragt. Es geht aber genauso um Selbstschutz. Es gibt auch viele jüngere Personen mit schweren Krankheitsverläufen. Die Erzählung, dass nur ältere Personen schwer erkranken, ist eine Mär. Es ist zudem wichtig, dass wir nicht nur die Todesfälle anschauen. Ich bekommen immer wieder Rückmeldung von genesenen Personen, die lange nach der Erkrankung an Atemnot leiden. Das Virus schädigt zudem die Nieren und führt zu Blutgerinseln. So starb eine Person, weil sie Wochen nach der akuten Krankheitsphase plötzlich und unerwartet eine schwere Lungenembolie bekam, die von den Pathologen jedoch in Zusammenhang mit der Ansteckung gebracht wurde.
Befinden wir uns in einer zweite Welle?
Das lässt sich wohl erst im Nachhinein sagen. Bei einem unruhigen Meer lässt sich nicht so genau sagen, ab wann ein Schwapp Wasser, der ans Ufer kommt, schon eine Welle ist. Das Potenzial ist auf jeden Fall vorhanden. Es liegt an uns, ob es bei Schwankungen des Wasserstandes bleibt oder ob sich das auf und ab zu einer zweiten Welle entwickelt.
Sie sagen, Reisende verbreiteten das Virus. Müssen wir das Grenzregime verschärfen?
Auch beim Reisen ist das Verhalten der Bevölkerung entscheidend. Die Situation ist nicht wie vor dem Ausbruch des Virus. Wir müssen akzeptieren, dass wir uns vorsichtiger verhalten müssen. Das ist wichtiger als jede Verschärfung. Epidemiologisch mag es irgendwann Sinn haben, bei sehr stark steigenden importierten Ansteckungen die Grenze zu schliessen, aber das ist eine überaus drastische Massnahme, welche die Politik nach sehr sorgfältiger Abwägung entscheiden muss. So weit sind wir heute bestimmt nicht.
In der Westschweiz sind Masken in Läden Pflicht. Warum nicht in der Deutschschweiz?
Die Idee, die dahintersteckt, ist eine differenzierte Strategie. Jeder Kanton kann weiter gehen als die Vorgaben des Bundes. Im Kanton Appenzell Ausserrhoden gibt es keinen einzigen Fall, in Genf gibt es wieder einen Anstieg. Da macht es Sinn differenziert zu agieren. Ich mag das Gerede von einem Flickenteppich nicht. Es geht um regional geeignete Massnahmen.
Ihr Kanton, Zug, gilt als Vorbild beim Contact Tracing. Wie läuft es schweizweit?
Es wurden einzelne Kantone wie Zug als vorbildlich herausgestrichen, aber wenn man mit Fällen überschwemmt wird, dann ist es einfach schwierig. Man kann die Strukturen nicht aus dem Boden stampfen. Es läuft gut, aber das Mittel stösst an Grenzen. Und diese sind in erster Linie nicht personeller Natur. Als wir mit den Rückverfolgungen von Kontakten anfingen, stiessen wir auf Personen mit grossem Verständnis, die wenige Kontakte hatten. Jetzt ist es eher umgekehrt. Die Menschen haben viele Kontakte und erschweren zum Teil die Kooperation. Viele leben in der Meinung, dass die ganze Sache sich ja nun als nicht so schlimm erweise und sehen deshalb nicht ein, warum sie Kontakte angeben oder sich in Quarantäne begeben sollen, zum Beispiel nach einer Reise in eine Risikogebiet. Allerdings darf ich auch klar festhalten, dass sehr viele Betroffene gut mitmachen und uns sehr gut unterstützen.
Die Angst vor dem Virus ist weg?
Ja, es gibt teilweise diese Einstellung. Wir haben heute auch nirgends mehr Bilder von überfüllten Spitälern. Das nimmt den einigen Menschen den Respekt vor dem Virus. Es fehlt hier ein Bergamo-Effekt.
Es ist erstaunlich, wie effizient dieses Virus agiert. Nach einem halben Jahr weiss man noch immer sehr wenig und hat fast nur Ahnungen obwohl man mit Hochdruck forscht. Vieles wird als neue Erkenntnis hochgepusht um dann nach ein paar Wochen widerlegt zu werden.
Ich wurde nach verweigertem Handschlag nun schon ein paar mal gefragt, ob ich auch einer sei, der Angst vor Corona hat:
Nein, keine Angst - Respekt!
Das lässt die Leute schon grübeln und ihr Verhalten überdenken, bis hin zu wieder umstellen auf Um- und Vorsicht.