Der 7. Oktober 2023 ist für Israel, was der 11. September 2001 für die USA ist: ein Tag, der das Land tiefgreifend verändert hat. Doch zumindest für ältere Generationen in Israel war bereits der 5. September 1972 ein einschneidendes Ereignis, als die palästinensische Terrororganisation «Schwarzer September» bei den Olympischen Sommerspielen in München 11 der 14 israelischen Olympiateilnehmer umbrachte.
Damals reagierte das Land so, wie sich das viele Israeli auch nach dem Massaker von 2023 gewünscht hätten, nämlich nicht mit einem Krieg, der unbeteiligte Frauen und Kinder in Mitleidenschaft zieht, sondern mit gezielten geheimdienstlichen Operationen, mit denen man die Verantwortlichen ausschaltet. 1972 hiess sie «Operation Wrath of God», was sich mit «Zorn Gottes» oder einfach «höherer Gewalt» übersetzen lässt.
Ministerpräsidentin Golda Meir verlangte explizit, dass bei den geplanten Einsätzen des israelischen Geheimdienstes Mossad keine Unschuldigen zu Schaden kommen dürfen. Das gelang zwar nicht immer, aber dass die palästinensische Zivilbevölkerung möglichst verschont wurde, unterscheidet die damalige Operation eklatant vom heutigen Krieg im Gaza-Streifen.
Ein zweiter Unterschied: Damals unterstützten im Geheimen verschiedene europäische Staaten Israel bei der gezielten Tötung von palästinensischen Terroristen und Drahtziehern – auch die neutrale Schweiz. Zu diesem Schluss kommt eine soeben erschienene neue Studie der in Grossbritannien lehrenden Basler Historikerin Aviva Guttmann mit dem Titel «Operation Wrath of God» (Cambridge University Press).
Sie hat erstmals die betreffenden Akten des 1969 in Bern gegründeten «Club de Berne» einsehen können, eines Verbundes von verschiedenen europäischen Geheimdiensten sowie FBI und Mossad, der auch heute noch existiert. Über ein verschlüsseltes Telegrammsystem übermittelte man einander Nachrichten über palästinensische Terrorakte. Manche Attentate und Anschläge liessen sich dank des Informationsaustauschs verhindern.
Die palästinensischen Terroristen ihrerseits kannten keine Gnade mit Zivilpersonen, was auch die Schweiz zu spüren bekam:
Da der Bundesrat trotz dieser Terrorwelle im eigenen Land seltsam passiv reagierte, kam der Verdacht auf, er habe in Geheimverhandlungen einen Deal mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO geschlossen. Jean Ziegler brüstete sich gar, er habe dank seiner guten Kontakte das Abkommen vermittelt. Ein Geheimabkommen mag der Bundesrat erwogen haben, es kam aber, wie ein Untersuchungsbericht feststellte, nicht zustande. Ziegler gab später zu, sich geirrt zu haben.
Wie Aviva Guttmann in ihrem Buch belegt, führte der enge Informationsaustausch im Club de Berne dazu, dass die europäischen Nachrichtendienste wie auch der Mossad spätestens nach dem Attentat von München besser über die palästinensischen Terrorstrukturen Bescheid wussten. Die erfolgreiche Ermordung von Terroristen und ihren Hintermännern führte dazu, dass selbst hochrangige Palästinenser wie PLO-Chef Yasser Arafat um ihr Leben fürchten mussten, wenn sie den Terror weiter unterstützten.
Aus Schweizer Sicht ist Guttmanns Recherche schon deshalb aufschlussreich, weil sie das Klischee widerlegt, dass die Bundespolizei nur unbescholtene Menschen mit linker oder staatskritischer Gesinnung fichiert habe. Der Staatsschutz leistete bei der Jagd auf palästinensische Terroristen hilfreiche Arbeit und wurde vom Mossad und anderen Geheimdiensten öfter gelobt.
Die Schweizer Geheimdienstler verfügten über ein dichtes Netz von Informanten selbst in Banken oder der Hotelbranche und konnten die Aufenthalte von Terrorverdächtigen erstaunlich schnell und genau rekonstruieren. Besonders ergiebig war die Arbeit der Bundespolizei bei der Verfolgung von Mohamed Boudia, einem Manager und Mastermind des palästinensischen Terrors in Europa.
Er war gebürtiger Algerier und leitete zum Schein ein kleines Theater in Paris. Als Womanizer schaffte er es, verschiedene Frauen, auch zwei Schweizerinnen, in seine Terrortätigkeit einzuspannen. Unter anderem plante er einen Anschlag auf ein Transitlager im österreichischen Schönau, in dem jüdische Flüchtlinge aus der Sowjetunion untergebracht waren. Ein Gemetzel konnte verhindert werden.
Entscheidend auf die Schliche kam man Boudia dank Schweizer Geheimdienstermittlungen. Auf Bitte des Mossad verhörte die Bundespolizei die beiden Schweizerinnen, die als Palästina-Aktivistinnen begannen und dann zu Terror-Helferinnen avancierten.
Es gelang, die Adresse von Boudias Pariser Absteige zu eruieren. Ferner identifizierte der Staatsschutz seinen Renault R16, der ihm zum Verhängnis wurde. Am 27. Juni 1973 töteten ihn Mossad-Agenten, während er ins Auto einstieg, mit einer Bombe, wie sie die Terrorgruppe «Schwarzer September» schon gebastelt hatte. So entstand der Eindruck, eine durch eine Panne verfrüht explodierte eigene Bombe habe den Top-Terroristen zerfetzt.
Die Mossad-Einsätze gegen die palästinensischen Terrorgruppen waren eine Erfolgsgeschichte – mit einer Ausnahme: Im norwegischen Lillehammer ermordeten die israelischen Agenten den falschen Mann, und die «Operation Wrath of God» flog auf. Dennoch setzte der Club de Berne seine Arbeit unbeirrt fort. Aviva Guttmann kommt zum Schluss, dass sich auch die Schweiz trotz ihrer Neutralität nach wie vor auf die Seite Israels stellte. Die Bundespolizei lieferte dem Mossad weiterhin Informationen, nun in vollem Wissen darum, dass diese Ermittlungsresultate zur Liquidierung von palästinensischen Terroristen dienten.
Ein Grund, warum die israelische Regierung heute auf Krieg setzt statt auf die gezielte Ausschaltung von Terroristen, dürfte sein, dass die «Operation Wrath of God» den palästinensischen Terror nicht stoppen konnte. In den 1980er-Jahren wütete dann Abu Nidals Bande, und danach brach die blutige Herrschaft der Hamas an. (aargauerzeitung.ch)
Wieso tut man sich mit dem Terrorstaat Russland so schwer?