Die Diagnose Krebs ist ein Schock, meist trifft sie völlig unerwartet ein. Das hinterlässt bei Betroffenen oftmals ein Gefühl der Hilfs- und Machtlosigkeit. Viele möchten daher zumindest einen Teil der Kontrolle zurückerlangen - und greifen auf alternative und komplementärmedizinische Heilmethoden zurück.
In der Schweiz wenden sich zwischen 25 und 45 Prozent der Krebskranken, meist als Ergänzung zur Schulmedizin, der Komplementärmedizin zu. Bei krebskranken Kindern ist es sogar die Hälfte, die mit Komplementär- oder Alternativmedizin behandelt wird.
Seit Jahren beschäftigt sich die Ärztin und Biochemikerin Marisa Kurz mit solchen Heilmethoden und versucht zu verstehen, wieso so viele Patientinnen und Patienten darauf vertrauen.
Wie ordnen Sie als Naturwissenschafterin und Medizinerin alternative Heilverfahren ein?
Marisa Kurz: Das hat sich mit den Jahren sehr verändert. Pseudowissenschaftliche Heilversprechen haben mich zunächst vor allem amüsiert. Ich habe mich lustig darüber gemacht, welchen Quatsch einige Personen, vor allem aus dem esoterischen Spektrum, erzählen und damit noch Geld verdienen können. Mit der Zeit habe ich aber angefangen, nicht mehr darauf hinabzuschauen, weil ich gemerkt habe, dass es sich für viele Leute um eine total ernste Sache handelt. Sie suchen darin etwas, was sie in der evidenzbasierten Medizin nicht finden.
Wonach suchen Sie?
Da kann ich aus eigener Erfahrung sprechen, da meine Mutter noch vor meinem Medizinstudium an Krebs erkrankt war. Wir fühlten uns in der Klinik schlecht aufgeklärt, wie abgefertigt - obschon wir immer überzeugt waren, dass die Behandlung wirksam war. Aber menschlich haben wir uns nicht gut aufgehoben gefühlt. Man hat uns zu wenig Zeit geschenkt. In der «Alternativmedizin» hingegen bekommen Patienten mehr Aufmerksamkeit.
Aus professionellen Gründen besuchen Sie regelmässig Esoterikmessen, um den Überblick über alternative Heilungsmethoden zu behalten. Welche blieb Ihnen besonders in Erinnerung?
Mit das Absurdeste, das mir begegnet ist, war die Aura-Chirurgie. Angebliche Heiler behaupten, die Aura von Menschen aus der Ferne operieren zu können - und so sogar Genschäden zu reparieren. Man muss dafür nur eine Menge Geld überweisen. Genau das erachte ich als die absolute Perversion: Denn eigentlich ist es ja Zeit, mit der die «Alternativmedizin» punkten kann. Aber bei Fernheilungen wird nicht einmal mehr diese geschenkt, sondern verzweifelten Patienten lediglich Geld aus der Tasche gezogen.
Immerhin ist die Esoterik bei solchen Heilmethoden einfach zu entlarven. Es gibt aber auch schwierigere Fälle, zum Beispiel der neue Trend des Krebs-Fastens.
Die Idee ist nicht vollkommen abwegig, weil Krebszellen tatsächlich viel Zucker verbrauchen. Nur: Verbannt man Zucker vom Speiseplan, findet der Körper andere Möglichkeiten, ihn herzustellen, zum Beispiel aus Muskel- und Fettmasse. Das ist ein Problem für Krebspatienten, weil sie häufig untergewichtig sind. Sie werden oft auch von Appetitlosigkeit geplagt. Wenn diese Patienten sich dann quälen und bestimmtes Essen für eine Krebsdiät weglassen, tut mir das richtig weh. Gezielt nur Krebszellen auszuhungern, gesunde Zellen aber nicht, funktioniert nicht.
Es gibt auch die weitverbreitete Behauptung, dass Infusionen mit hoch dosiertem Vitamin C gegen Krebs wirken sollen. Dieser Meinung war sogar Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling.
Dafür gibt es absolut keine wissenschaftlichen Belege. Im Gegenteil: Eine Überdosierung von Vitamin C kann zu unerwünschten Nebenwirkungen führen, und noch gefährlicher ist die Überdosierung anderer Vitamine wie Vitamin E, A oder manchen B-Vitaminen. Im besten Fall helfen Nahrungsergänzungsmittel nichts, im schlechtesten Fall schaden sie. Darum ist es wichtig, nur zu substituieren, wenn tatsächlich ein ärztlich festgestellter Mangel vorliegt.
Besonders beliebt ist in der Schweiz auch die Misteltherapie zur Krebsbehandlung. Was weiss man darüber?
Auch hierzu gibt es keine Belege, wonach diese Therapie den Verlauf einer Krebserkrankung verbessern könnte. Es besteht aber die Möglichkeit, dass sie in gewissen Krankheitsstadien die Lebensqualität erhöhen kann.
Unispitäler und Krebsorganisationen raten von Alternativmedizin ab, bieten jedoch Komplementärmedizin an. Warum?
Es ist wichtig, zwischen «Alternativmedizin» und Komplementärmedizin zu unterscheiden. «Alternativmedizin» behauptet, eine gleichwertige Alternative zur evidenzbasierten Medizin zu sein - was sie nicht ist, sie hat den Namen Medizin nicht einmal verdient. Und es ist gefährlich, wenn Heilung durch sie suggeriert wird. Komplementärmedizin hingegen untersucht, was zusätzlich zur evidenzbasierten Medizin getan werden kann. Sie kann Krebs nicht heilen, aber Begleitbeschwerden wie Unruhe, Muskelverspannungen, Schlaflosigkeit lindern. Deshalb besitzen diese Methoden absolut ihre Berechtigung.
Dennoch: Es ist belegt, dass Krebspatientinnen und -patienten, die auf Komplementärmedizin zurückgreifen, ein höheres Risiko haben, an der Krankheit zu sterben.
Genau deshalb ist es essenziell, dass Gesundheitseinrichtungen wie Unikliniken solche Verfahren anbieten. Denn diese gehören in die Hände der Wissenschaft und von medizinischem Fachpersonal. Mit ihrem Wissen können sie sicherstellen, dass die gewählten Verfahren die Nebenwirkungen nicht verstärken, nicht mit den konventionellen Krebsmedikamenten interagieren und deren Wirkung nicht abschwächen.
Bei welcher komplementärmedizinischen Intervention ist die Beweislage am stärksten, dass sie die Folgen einer Krebsbehandlung lindern kann?
Dieses Gütesiegel erhält die körperliche Aktivität. Es ist belegt, dass sie dazu beiträgt, dass Patienten Krebstherapien besser vertragen. Und es gibt Indizien, dass Bewegung eine Krebserkrankung sogar positiv beeinflussen könnte. Womöglich hängt das unter anderem damit zusammen, dass Bewegung und Sport verschiedene Prozesse im Körper in eine gute Richtung lenken; zum Beispiel den Stoffwechsel, Hormonhaushalt, Immunprozesse. Die genauen Mechanismen sind aber noch Gegenstand laufender Forschung.
Ebenfalls noch ein Rätsel sind Berichte zu Selbst- oder Spontanheilung von Krebs, also von Patienten, die ohne Therapie plötzlich gesund sind. Das erinnert fest an Aura-Medizin.
Tatsächlich wird das Phänomen manchmal missbraucht, um alternativmedizinische Methoden zu bewerben. Aber solche Fälle sind in der wissenschaftlichen Literatur durchaus beschrieben. Nur: Es passiert extrem selten und Patientinnen sollten nie auf ein solches Wunder hoffen. Man geht davon aus, dass die Selbstheilung mit einer speziellen Immunreaktion zusammenhängt. Das Immunsystem ist grundsätzlich in der Lage, Krebszellen zu erkennen und zu zerstören.
Könnte man den zugrunde liegenden Mechanismus gezielt für eine Behandlung nutzen?
Das wird schon gemacht: Neue Immun- und Zelltherapien machen sich die ureigene Fähigkeit des Immunsystems, den Krebs zu bekämpfen, zunutze. Ganz einfach ist es leider nicht, weil Krebs viele Strategien kennt, dem Immunsystem zu entkommen. Es gehört derzeit zu den wichtigsten Forschungsthemen der Onkologie, solche Therapien zu verbessern.
Interessanterweise können wir nicht nur vom menschlichen Immunsystem etwas abschauen, sondern auch aus der Tierwelt.
Ja, mein Lieblingsbeispiel ist der Elefant. Eigentlich steigt das Krebsrisiko zum einen mit dem Alter, zum anderen mit der Grösse. Denn grosse Organismen haben mehr Zellen, das heisst, die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass da mal eine Zelle entartet und zur Krebszelle wird. Doch trotz seiner Grösse erkrankt der Elefant viel seltener an Krebs als der Mensch.
Weiss man wieso?
Forscher haben herausgefunden, dass die Dickhäuter etwa zwanzig Mal mehr Kopien für den Bauplan eines Proteins namens p53 besitzen als Menschen. P53 wird auch als der «Wächter des Genoms» bezeichnet, weil es die Reparatur von Erbgutschäden steuern kann. Auch kann es Zellen, in denen zu grosser Schaden entstanden ist, in den programmierten Zelltod schicken, um den Organismus zu schützen.
Spannend, gibt es andere Beispiele?
Derselbe Widerspruch zwischen Alter, Grösse und Krebsprävalenz gilt für Wale. Bei ihnen liegt es allerdings nicht an p53, sondern an einem anderen Protein. Offenbar hat die Natur nicht nur einen Weg gefunden, Krebs zu unterdrücken, sondern ganz viele. Das ist faszinierend.
Könnte man die Erkenntnisse nun bei Krebspatienten nutzen, ihnen also zum Beispiel p53 zur Heilung spritzen?
P53 verliert bei vielen Krebsarten aufgrund von Mutationen seine Funktion. Leider ist es alles andere als trivial, diese wiederherzustellen. Das ist Gegenstand aktueller Forschung. Auch ist es lange nicht das einzige Protein, dessen Veränderung zu einer Krebsentstehung führt. Krebs ist zudem in der Regel multifaktoriell bedingt; durch innere, angeborene Faktoren und durch äussere Umweltfaktoren. Dennoch trägt die Beobachtung von Krebserkrankungen bei Tieren zu unserem Verständnis von Krebs beim Menschen bei. (aargauerzeitung.ch)
Kann man so etwas nicht gesetzlich verbieten? Man muss doch die Menschen vor sich selbst schützen.