Die Zahl der Asylgesuche ist seit dem Höhepunkt im Jahr 2015 stetig und markant gesunken. Sind Sie ein Genie oder einfach ein Glückspilz?
Mario Gattiker: Diese Entwicklung hat primär mit dem besseren Schutz der europäischen Aussengrenzen zu tun, mit Abkommen und Massnahmen zwischen Griechenland und der Türkei oder Libyen und Italien. Aber die Schweiz hat in den letzten Jahren mit Sicherheit auch einiges richtig gemacht.
Und zwar?
Wir haben – bereits vor der Flüchtlingskrise – sehr schnelle Verfahren für Menschen aus Ländern eingeführt, in denen keine generelle Verfolgung droht. Sie müssen die Schweiz rasch wieder verlassen. Das hat sich herumgesprochen: Wer keinen Anspruch auf Asyl hat, meidet unser Land. Auch dies kommt in den tiefen Asylgesuchszahlen zum Ausdruck.
Mit rund 15'500 war die Zahl der Asylgesuche 2018 so tief wie seit elf Jahren nicht mehr. Wie sieht es dieses Jahr aus?
Wir gehen von einer unveränderten Situation aus, die nach wie vor beeinflusst ist durch die Massnahmen vor der Balkanroute und im Mittelmeer. Wir erwarten deshalb in etwa die gleichen Asylzahlen wie im Vorjahr. Klar ist aber: Der Migrationsdruck ist international weiterhin sehr hoch. Die Situation kann sich rasch ändern.
Bald stimmt die Schweiz über die Verschärfung des Waffenrechts ab. Der Bundesrat warnt, dass bei einem Nein die Mitgliedschaft bei Schengen/Dublin in Gefahr ist. Was würde das für Ihre Arbeit bedeuten?
Schengen ist für die Migration sehr wichtig, wegen des Schutzes der Aussengrenzen und der Sicherheitszusammenarbeit.
Und Dublin?
Für uns ist auch das Dublin-Abkommen zentral. Ohne dieses wären wir blind im Asylbereich. Wir wüssten nicht mehr, ob jemand zum Beispiel schon in Deutschland, Italien oder Frankreich war. Zudem gäbe es eine Sogwirkung, weil alle Asylsuchenden, die in einem anderen Land abgewiesen wurden, es in der Schweiz nochmals versuchen könnten. Heute können wir solche Personen auf der Basis des Dublin-Abkommens in das zuständige europäische Land zurückführen. Das wäre ohne Schengen/Dublin nicht mehr möglich. Fiele das Dublin-Abkommen weg, hätten wir deutlich mehr Asylgesuche in der Schweiz.
Was bedeutet das in Zahlen?
Der Bundesrat schätzt, dass dies zu Mehrkosten von mehreren hundert Millionen Franken pro Jahr führen würde. Im vergangenen Jahr haben wir 8000 Dublin-Gesuche an andere Staaten gestellt. Gäbe es dieses Abkommen nicht, hätten wir diese als normale Asylgesuche behandeln müssen. Zusätzlich kämen all die Asylsuchenden hinzu, die in einem anderen europäischen Staat abgewiesen wurden und es in der Schweiz ein weiteres Mal versuchen könnten.
Die Erfolgsquote bei den Dublin-Rückführungen ist aber sehr mager. 70 Prozent der Personen kann die Schweiz nicht zurückstellen.
Das stimmt. Unter dem Strich konnte die Schweiz aber sehr viel mehr Asylsuchende in ein anderes Land überstellen als umgekehrt. Ein rechtskräftiger Dublin-Entscheid bedeutet zudem, dass jemand aus den ordentlichen Strukturen fällt und nur noch Nothilfe bekommt. Das führt dazu, dass viele Personen die Schweiz selbstständig verlassen.
Wird die Gefahr eines Ausschlusses der Schweiz aus Schengen/Dublin nicht ein bisschen dramatisiert in diesem Abstimmungskampf?
Wieso? Die Schweiz muss keine Weiterentwicklung von EU-Recht übernehmen. Es ist aber klar geregelt, dass das Abkommen 90 Tage später automatisch ausser Kraft tritt, falls sie das nicht macht oder keine gütliche Einigung zustande kommt. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann das im Vertrag nachlesen.
Das Asylwesen ist unabhängig von der Abstimmung im Umbruch: Seit Anfang März werden die beschleunigten Verfahren angewendet. Wie läuft es?
Ich bin sehr zufrieden. Wir waren bereit, die Prozesse definiert und getestet, und die Mitarbeiter, von welchen viele ihren Arbeitsort wechseln mussten, sind für ihre oft neuen Aufgaben ausgebildet. Geholfen hat dabei sicher auch, dass wir mit den Testbetrieben Erfahrungen sammeln konnten. Kinderkrankheiten kann man bei solch grossen Systemumstellungen aber nie ausschliessen. Es ist gut möglich, dass wir da und dort nachjustieren müssen. Die Informatik beispielsweise ist noch nicht dort, wo wir sie haben wollen.
Zudem hapert es noch bei den Asylzentren. Erst 4000 der geplanten 5000 Plätze stehen bereit. Braucht es den Rest überhaupt noch angesichts der sinkenden Asylzahlen?
Das ist eine berechtigte Frage, die ich klar mit Ja beantworte. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, wie schwierig es ist, wenn man bei einer Krise und einem sprunghaften Anstieg der Asylzahlen neue Unterkünfte suchen muss. Das geht zu lange und ist sehr teuer. Wir brauchen im Asylbereich nachhaltige Strukturen. Die angestrebten 5000 Plätze basieren auf langjährigen Erfahrungswerten. Diese Kapazitäten brauchen wir, damit wir auch bei einem Anstieg der Gesuche einen grossen Teil der Verfahren in unseren Bundesasylzentren durchführen und abschliessen können.
Bei der Integration gibt es noch viel zu tun: Wir haben Zehntausende Menschen, die in die Schweiz geflüchtet und von Sozialhilfe abhängig sind. Die Konferenz für Sozialhilfe spricht von einer «Zeitbombe».
Das ist tatsächlich eine grosse Herausforderung. Es ist für die Betroffenen selbst nicht gut und auch für die öffentliche Hand nicht, denn es ist sehr teuer. Abhilfe schaffen auch hier die beschleunigten Verfahren, weil schneller klar ist, wer in der Schweiz bleiben kann und wer nicht. Parallel dazu haben Bund und Kantone eine Integrationsagenda vereinbart, die am 1. Mai in Kraft treten wird. Der Bund zahlt den Kantonen dann eine höhere Integrationspauschale. Im Gegenzug intensivieren diese ihre Integrationsprogramme und richten sich an ehrgeizigen Zielen aus. Wir gehen davon aus, dass in Zukunft mehr Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene im Berufsleben Fuss fassen können.
Ist das nicht ein frommer Wunsch? Die Sozialhilfequote beträgt heute über 80 Prozent.
Asylsuchende sind ja nicht hierhergekommen, um zu arbeiten, sondern weil sie Schutz suchten vor Verfolgung und Krieg. Das macht die Integration anspruchsvoll. Sie haben oft Lücken in der Ausbildung und müssen eine unserer Landessprachen von Grund auf erlernen. Diese Herausforderungen gehen wir mit der Integrationsagenda an, die zum Beispiel viel Gewicht auf eine frühe Sprachförderung legt.
Die EU haben sich bei Verhandlungen daran gewöhnt das die Schweiz unter Druck immer einknickt und kommen darum immer mit den Maximalforderungen durch.