Frau Funiciello, Sie waren 3 Jahre lang Juso-Präsidentin und gelangten als Provokateurin der Nation immer wieder in die Schlagzeilen. Sind Sie froh, dass Sie jetzt endlich aus dieser Rolle raus sind?
Tamara Funiciello: Nein, so ist es nicht. Interessant ist ja Folgendes: Von jedem Unternehmen erwartet man, dass es innovationsfähig ist und dass seine Mitarbeiter «out of the box» denken. Wird dies aber in der Politik getan, finden das die Leute gaga. Das Juso-Präsidium birgt viele Chancen. Es gibt einem die Möglichkeit, mit Unkonventionellem zu experimentieren, einfach mal eine Idee in den öffentlichen Diskurs zu schmeissen und zu schauen, was damit passiert. Ich empfand darum meine Rolle als ein Privileg. Darum nein: Ich bin nicht froh, diese Rolle los zu sein. Ich werde sie höllisch vermissen.
Wie erklären Sie sich, dass Sie so viel mehr polarisiert haben als Ihre Vorgänger?
Ganz offensichtlich liegt das auch daran, dass ich eine Frau bin. Und wenn eine Frau nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entsprechend handelt oder aussieht, dann polarisiert sie automatisch. Bei mir kam aber noch ein Faktor dazu. In den letzten drei Jahren haben wir die Juso neu gedacht und den Feminismus zur Basis von allem gemacht.
Und warum eckten Sie so an?
Der Feminismus gibt uns die Möglichkeit, verschiedene Bewegungen und Kämpfe zu vereinen, weil er alle Arten von Diskriminierung und Unterdrückung in Frage stellt. Und das stört viele. Nicht nur Leute in der rechten Bubble, sondern auch linke Männer und Frauen. Denn Feminismus fordert dich auf, über deine Privilegien nachzudenken. Die Juso hat mit diesem Richtungswechsel von den Leuten verlangt, dass sie nicht nur auf der richtigen Seite der Geschichte stehen, sondern dass sie auf der richtigen Seite stehen im Alltag, bei jeder Handlung, die sie machen. Das hat viele Leute vor den Kopf gestossen.
Sie haben oft auch bewusst provoziert. Gibt es Dinge, die Sie im Nachhinein nicht mehr machen würden?
Darüber habe ich lange nachgedacht. Ich kam zum Schluss, dass alles, was ich gemacht habe, in der jeweiligen Situation immer Sinn machte. Es gab damals immer gute Gründe, das zu machen.
Wie durchdacht waren diese Provokationen?
Es geht gar nicht darum, ob die Provokationen gut durchdacht waren. Oft war es einfach wahnsinnig einfach, zu provozieren. Offenbar ist der Rahmen, in dem sich eine Frau drin zu bewegen hat, so klein. Fällt sie aus dem Rahmen, drehen die Leute sofort durch.
Und wie ist es, wenn die Leute durchdrehen? Sie sagen das so nonchalant. Aber das geht ja nicht spurlos an einem vorbei.
Naja, es regt zum Nachdenken an und zwingt dich, die nächste Aktion genauer durchzudenken und mehr Faktoren einzuberechnen. Was aber nicht heisst, dass man sich untreu werden soll. Denn das passiert, wenn du etwas aus Angst machst oder damit dich jemand gern hat. Dann verliert es die Ehrlichkeit. Ich glaube, diese Ehrlichkeit habe ich in den letzten drei Jahren nie verloren.
Was ist mit der BH-Verbrennung? Würden Sie das heute wieder machen?
Lustigerweise hatte ich vor Kurzem eine Begegnung mit einer älteren Frau, die irgendwie verwandt ist mit einer der Frauen, die mit mir auf dem Foto posiert. Sie sagte mir, das sei das Beste, was ihre Verwandte je gemacht habe. Das habe ihr so viel Selbstvertrauen gegeben. Und dann dachte ich: Nur schon für diesen Moment war es das wert. So schwierig es damals auch war, manchmal musst du dich aus deiner Komfortzone begeben, damit du wachsen kannst. All die Frauen auf dem Foto sind daran gewachsen.
Warum provozierte das Foto so?
Das habe ich mich auch gefragt. Das konnten die Leute dann ja nicht begründen. Sie sagten einfach: Ihr seid alle «gruusig». Ok, aber dann müssen wir über das Frauenbild in dieser Gesellschaft sprechen, über Körperkult, darüber, was eine Frau ist und was nicht. Und wenn wir das tun, habe ich schon wieder eine Diskussion mehr lanciert. Das ist es mir wert.
Aber die Person, die solche Diskussionen lanciert, die steckt auch ein.
Sicher, aber dazu habe ich mich bereit erklärt. Ich habe ausgeteilt, ich habe eingesteckt. Die Frage ist, war es richtig, dass ich so viel einstecken musste? Nein. Wirklich nicht. Egal, was ich mache: Gewaltandrohungen sind nie berechtigt. Aber auch das ist eine Diskussion, die wir sonst nicht geführt hätten. Oder zumindest nicht auf dieser Skala. Es wäre mir auch lieber gewesen, wenn wir das nicht an meiner Person hätten abarbeiten müssen. Aber irgendwo müssen wir ja beginnen und irgendwer muss ja hinhalten.
Sie sind das Aushängeschild der Juso, das mit Hass zugeschüttet wurde. Dieses Etikett bleibt an Ihnen haften.
Eine Zeitung stellte kürzlich die jungsozialistischen Präsidenten im deutschsprachigen Raum vor. Über Kevin Kühnert, den Bundesvorsitzenden der Juso in Deutschland, stand, er wolle BMW verstaatlichen. Über Julia Herr von der sozialistischen Jugend Österreich stand, sie wolle einen Klimaplan machen. Bei mir stand, ich werde massiv angefeindet. Doch ich wurde ja nicht nur angefeindet, wir haben auch viel erreicht. Wir haben einen feministischen Streik mitorganisiert, eine Initiative eingereicht, ein Referendum zur Abstimmung gebracht, sind Teil des Klimastreiks und haben die Arbeitszeitverkürzung wieder in der Linken etabliert. Aber am Schluss sprach man häufig nur darüber, wie viel Hass ich bekommen habe.
Macht Sie das nicht unglaublich wütend?
Es stört. Vor allem auch, weil die Haters dadurch viel zu viel Platz bekommen. Das haben sie gar nicht verdient! Es nimmt mir Platz für politische Inhalte.
Ihre Kritiker sagen, Sie hätten sich diesen Platz selber versperrt, indem Sie sich mit Provokationen in den Vordergrund gedrängt haben, sodass danach gar nicht mehr über den Inhalt gesprochen wurde. Standen Sie sich selber im Weg?
Das ist eine typische Umkehr von Opfer und Täter. Ich hab mir das doch nicht ausgesucht. Man muss mir ja keine Morddrohungen schicken. Man könnte auch über meine Forderungen diskutieren. Aber das tat man ja nicht. Und da haben Sie den Unterschied zu meinen Vorgängern. Bei ihnen sagte man: Jetzt hat er ein wenig übertrieben und danach diskutierte man über seine Forderungen. Bei mir sagte man: Jetzt hat sie übertrieben und danach schickte man mir Hass und diskutierte über den Hass.
Völlig aus dem Ruder lief die Situation nach Ihrer Kritik am «079»-Song von Lo&Leduc im Sommer 2018. Sie wurden danach wochenlang verbal und körperlich attackiert. Würden Sie Ihre Aussage wieder machen?
Es war Kulturkritik! Kulturkritik ist so alt wie Kultur selbst. Wenn man keine Kultur mehr kritisieren darf, dann ist sie nichts wert. Das haben Lo&Leduc ja auch selbst gesagt. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich werde auch in Zukunft Kultur kritisieren.
Sie sind ein Stehaufmännchen. Woher nehmen Sie diese immense Energie?
Ich hab so einen brutalen Willen zur Veränderung. Wenn ich schaue, wohin ich bisher gekommen bin, denke ich immer, ok und jetzt mache ich weiter. Ich muss besser sein. Ich will, dass meine Tochter in einer anderen Welt aufwächst.
Was ist so schlecht an unserer Welt? Geht es uns heute nicht viel besser?
Das stimmt doch nicht! Unsere Kaufkraft nimmt ab und man sagt uns immer noch, es werde alles besser. Uns geht es schlechter als vor zwanzig Jahren. Aber wir haben immer das Gefühl, die Geschichtsschreibung sei linear und alles werde automatisch immer besser. Das stimmt nicht. Es waren immer die sozialen Kämpfe, die Besserung brachten. Das ist auch heute noch so.
Wie hat Sie das Juso-Präsidium verändert?
Ich hätte nie gedacht, dass sowas mal aus meinem Mund kommt, aber: Ich bin wohl realpolitischer geworden. Trotz allem bin ich drei Jahre älter und erwachsener. Ich bin selbstbewusster. Und ich habe mehr Verständnis für andere Positionen, ohne von meiner eigenen abzuweichen.
Und andersrum: Wie haben Sie die Juso verändert?
Ich habe intensiv an der Diskussionskultur innerhalb der Partei gearbeitet. Man hört jetzt auch auf die leisen Stimmen und nicht nur auf die lauten, rhetorisch begabten «Polteris». Das war mir wichtig. Ich habe mehr auf Kooperation und weniger auf Konkurrenz gesetzt. Und inhaltlich haben wir den Feminismus als grundlegende Stossrichtung unserer Politik genommen.
Was werden Sie nicht vermissen?
Sitzungen, die bis halb eins in der Nacht dauern. Irgendwelche Hau-Ruck-Aktionen, kurzfristige Pressetermine. Die Juso funktioniert sehr dynamisch und schnell. Wir reagieren oft auf Aktualitäten und versuchen dann, eine langfristige Perspektive einzubauen. Jetzt freue ich mich auf das mittelfristige Arbeiten. Ich bin ja auch Berner Grossrätin. Dort geht es etwas strategischer und geplanter zu und her.
Ihr schönstes Erlebnis als Juso-Chefin?
Der 14. Juni war brillant. Ich war den ganzen Tag an verschiedenen Orten unterwegs, aber es gab ein Schlüsselerlebnis. Ich stand in Bern in der Marktgasse bei den Verkäuferinnen, die eine verlängerte Streikpause machten. Und dann kamen die Mütter mit der Kinderwagen-Demo um die Ecke. Wir rechneten mit 20, aber dann kamen 5000! Sie marschierten an den Verkäuferinnen vorbei und sie jubelten sich gegenseitig zu. Dieser Moment führte mir die ganze Schlagkraft von feministischer Praxis perfekt vor Augen. Die Frauen, die für einen höheren Lohn kämpfen, für mehr Anerkennung ihrer Arbeit, für ihre Zukunft, für die Zukunft ihrer Kinder. Dort, in diesem Moment, auf dieser Strasse war die Vereinigung all dieser Kämpfe so bildhaft. Da kamen mir die Tränen.
Was war das Lustigste, das die Medien über Sie geschrieben haben?
Ihr hattet mal eine Lustige in eurer Arena-Rezension: «Juso-Präsidentin grilliert den Bundesrat.» Das war mein erster Auftritt in der Arena und ich war wahnsinnig nervös. Ich kannte das Gesetz in- und auswendig. Und Bundesrat Guy Parmelin war es wohl einfach nicht so wichtig wie mir. Er stolperte dann auch noch über mein Böckli, auf dem ich stehen musste, weil ich so klein bin. Ich habe aus Nervosität laut gelacht. Das war mir etwas peinlich. Gut war auch die Schlagzeile vom «Blick» nach dem Tod von Fidel Castro: «Das sagen Trump, Putin und Funiciello.» Eine tolle Reihenfolge. (lacht).
Im Oktober kandidieren Sie für den Nationalrat. Was machen Sie, damit der Juso-Stempel nicht an Ihnen haften bleibt?
Auch wenn er haften bleibt, ich trage den Juso-Stempel mit viel Stolz. Wenn grosse Ideen eine Provokation sein sollen, bin ich weiterhin gerne Provokateurin.
Befürchten Sie nicht, dass man Sie mit ihrer Kapitalismuskritik und sozialistischen Ideen nicht ernst nehmen könnte?
Wer mich nicht ernst nimmt, ist selbst schuld. Denn das hat zur Folge, dass man mich unterschätzt.