Ich bin Mitte 20 und würde mich gerne gegen Covid-19 impfen lassen. In Waadt könnte ich das, dort sind schon Personen ab 16 Jahren zur Impfung zugelassen. In meinem Wohnkanton Zürich jedoch nicht. Ist das gerecht?
Mathias Wirth: Diese Frage ist absolut brisant. Insbesondere, weil es hier um die eigene Gesundheit geht und nicht um etwas Triviales. Wer später geimpft wird, bleibt der Gefahr des Coronavirus ausgesetzt. Besonders heikel wird es, wenn Sie dann einen schweren Verlauf haben oder Long Covid entwickeln. Der Gedanke, dass einem das in einem anderen Kanton nicht passiert wäre, ist dann schwer zu ertragen.
Was auch ins Gewicht fallen dürfte, ist die Frage nach mehr Freiheit, die mit einer Impfung vielleicht kommt.
Hier herrscht dringender Diskussionsbedarf. Es ist riskant, wenn ein Teil der Bevölkerung vollumfänglich Freiheiten erhält. Die Rücksicht oder Solidarität der anderen, die noch nicht geimpft werden konnten, wird dann sehr auf die Probe gestellt.
Was kann man dagegen tun?
Die Schere darf nicht zu krass auseinandergehen. Kleine, symbolische Schritte finde ich sinnvoll, solange nicht alle Impfwilligen versorgt sind. Den Geimpften sollte angerechnet werden, dass sie keine Gefahr mehr sind. Aber vollkommene Normalität, während andere noch in Gefahr sind, ist moralisch fraglich. Sie sind ja gewissermassen durch das Geimpft-Sein privilegiert.
Wie sähen diese Schritte aus?
Ich meine damit Dinge, die im Grundrechte-Bereich sehr hoch rangieren: Völlige Bewegungsfreiheit oder Menschen in Spitälern und Pflegeeinrichtungen besuchen können. Das halte ich für wichtiger als eine Party zu feiern.
Eine junge Person würde dieser Rangordnung vermutlich widersprechen.
Ja, ich will das nicht unterschätzen: Feiern ist ein Ausdruck von Freiheit. Es hat etwas therapeutisches, antidepressives und ist für die eigene Biografie wichtig. Vielleicht ist hier ein Kompromiss möglich, indem man sagt: Wir versuchen, nicht die grossen Feten zu veranstalten, bis wir alle wieder partizipieren können. Das heisst aber nicht, dass man nicht im kleinen Rahmen beginnen kann, wenn das infektiologisch sicher ist. Und es wäre eine Antwort darauf, dass Gleichaltrige mit dem gleichen Bedürfnis noch nicht mitfeiern können. Die Politik sollte hier versuchen, beide Gruppen im Blick zu haben.
Auch andere Kantone wie Uri, Solothurn oder Aargau werden ab Mitte Mai Impftermine für alle vergeben. Ist es besser, die Impfpriorisierung nach Alter aufzuheben, wenn die Hochrisikogruppen durchgeimpft sind?
Das scheint auf den ersten Blick gerecht, ja. Dann hätten wir die verkappte Triage-Situation nicht und jeder kann sich impfen lassen, der will. Andererseits ist es zweischneidig, weil dann eine 50-jährige Person vielleicht später einen Impfplatz bekommt als ein junger Erwachsener. Global gesehen ist die Impfpriorisierung sinnvoll. Die, die warten müssen, haben bestenfalls das geringste Risiko auf einen schweren Verlauf. Aber für ein Individuum bedeutet das, dass es in der Gefahrenzone bleiben muss. Die Impfung wäre für alle gut. Aber es wird einige geben, die die Kröte des heiklen Wartens zu schlucken haben.
Es sind wohl am ehesten die Jungen, die die Kröte schlucken müssen.
Ja, die Jüngeren trifft es in dieser Frage härter als die Älteren. Wir sind auch in einer neuen Situation. Es gibt plötzlich unterschiedliche Gruppen: Die Geimpften, die bald Geimpften und die, die noch warten müssen. Bisher waren wir fast alle im gleichen Boot. Jetzt verlassen Leute peu à peu dieses Boot und steigen in den Luxusdampfer. Andere warten noch und müssen weiterhin schwimmen. Und es wird in nächsten Wochen noch einige geben, die ertrinken.
Wie kann man sich mit dieser Tatsache arrangieren?
Für die Politik ist es sicher wichtig, dass sie das Thema als moralisch brisant behandelt und sich nicht auf der momentanen Regelung ausruht. Wer noch auf die Impfung wartet, kann sich weiterhin an die Schutzmassnahmen halten und damit Verantwortung für sich selber wahrnehmen. Dann ist die Zeit des Wartens erträglicher.
Solidarität geht anders…