Melinas Vorbild ist der deutsche Enthüllungsjournalist Günter Wallraff. Der Mann, der für seine unerwünschten Reportagen mal als Alkoholiker in einer psychiatrischen Klinik, mal als türkischer Gastarbeiter oder als potenzieller Napalmlieferant für die USA unterwegs war, um der Welt ihre Missstände vor Augen zu führen. Ein investigativer Journalist. Ein unermüdlicher Kämpfer für die Gerechtigkeit.
Melina bediente sich also der Wallraff-Methode und haute die Menschen in der Shop-Ville des Hauptbahnhofs Zürich um Geld an – das erste Mal in ihren normalen Klamotten und mit der Ausrede, sie habe ihr Portemonnaie zu Hause vergessen. Das zweite Mal als hungrige Bettlerin mit fettigen Haaren und geschminkten Augenringen.
Wie bist du darauf gekommen, eine Matura-Arbeit über das Leben auf der Strasse zu schreiben?
Melina Grether: Ich wollte mit der gegebenen Zeit etwas Sinnvolles anfangen. Etwas machen, wozu ich mich sonst nicht überwinden würde. Eine persönliche Erfahrung machen, um meine eigenen Vorurteile loszuwerden, da mir Toleranz sehr wichtig ist.
Als Obdachlose verkleidet hattest du weniger Chancen, Geld zu bekommen. Woran lag das?
Von Obdachlosen kann man sich leicht distanzieren, da man einfach eine Ausrede erfinden kann wie: «Der ist ja selbst schuld», «dem wird schon vom Sozialamt geholfen». Diese Leute haben sich aber meistens nie intensiv mit Problemen von Randständigen beschäftigt und wissen nicht, von was sie reden. Ich habe durch meine Arbeit viele verschiedene Gründe kennengelernt, weshalb diese Menschen auf der Strasse leben: Eine Scheidung, eine Sucht oder ein Unfall zum Beispiel.
Und als du in deinen alltäglichen Klamotten um Geld gefragt hast?
Ist jemand normal angezogen und behauptet, das Portemonnaie vergessen zu haben, kann man sich in diese Situation hineindenken. Man hilft sozusagen sich selbst.
Du hast auch einen Surprise-Verkäufer begleitet ...
Auf die Surprise-Verkäufer kommen die Leute freiwillig zu. Sie fühlen sich also nicht belästigt. Solche, die nicht interessiert sind, können einfach weitergehen. Ausserdem arbeiten die Surprise-Verkäufer für ihr Geld. Von aussen mag es so aussehen, als würden sie nur herumlungern. Es ist aber alles andere als angenehm, stundenlang in der Kälte zu stehen, bis einem die Knie schmerzen.
Sollte man in der Schweiz mehr für die Obdachlosen tun?
Soweit ich das System in der Schweiz beurteilen kann, ist es gut ausgebaut. Natürlich könnte man immer mehr machen und einige hätten eine persönliche Hilfe dringend nötig. Doch das ist einfach nicht möglich. Dafür kann jeder Einzelne an sich arbeiten. Man kann den Randständigen durchaus mehr Respekt und Freundlichkeit entgegenbringen. Das kostet einen überhaupt nichts, kann jedoch den Tag eines solchen Menschen verbessern. Diese Leute haben es nicht einfach im Leben, da muss man sie nicht auch noch wie Dreck behandeln.
Was ziehst du für eine Lehre aus dieser Bettler-Erfahrung?
Ich habe an meinem Verhalten nichts geändert, nur meine Kleidung war anders. Und dennoch haben mich die Menschen ganz anders behandelt. Daraus habe ich gelernt, dass man seine Meinung nicht so sehr auf das Äussere stützen sollte. Ausserdem sollte man nie vom Einzelnen auf die Allgemeinheit schliessen. Natürlich gibt es auch unter Bettlern unhöfliche Menschen, aber das ist in allen Gesellschaftsgruppen so.
Willst du, wie Günter Wallraff, eine investigative Journalistin werden?
Das kann ich noch nicht sagen, aber diese Arbeit hat mich sehr inspiriert. Es war anspruchsvoll, aber auch sehr lehrreich. Es hat mir die Augen geöffnet und ich würde es auf jeden Fall wieder tun.
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Man darf jedoch nicht vergessen das KEINER dieser Personen in der Schweiz auf der Strasse leben müssen.