Sie sind anonym. Rücksichtslos. Unerwünscht. Sie prangen an Strassenpfeilern, Mülltonnen, Fassaden, an historischen Bauten und religiösen Einrichtungen. Sie sind der leidige Zierrat der Städte, der ihre sauberen Linien zerstört und dabei gewaltigen Sachschaden anrichtet.
Tags, die gemeinhin als «Chribel», als Schmiererei, als Schändung des Stadtbildes verstanden werden, bekommen erstmals eine Ausstellung in der Schweiz. Roman Leu, Kurator und Leiter der Starkart-Galerie, will die missverstandenen Zeichen aus all den bisher bekannten Kontexten herausreissen und sie ohne Vorurteile neu betrachten.
Wie er das genau anstellt, verrät er im Gespräch:
Wenn Tags keine Schmierereien sind, sind sie dann Kunst?
Roman Leu: Nein, auch nicht unbedingt. Ich will sie aus all diesen Rahmen ausordnen. Der Begriff der Kunst ist ebenso vorbelastet. Ohne damit die Tags abzuwerten, vielmehr will ich sie damit aufwerten. Sie sollen als etwas Unbekanntes behandelt werden, als etwas, das noch gar nicht definiert ist.
Und was ist mit den Tags wie die von Puber zum Beispiel, die doch eine Art Reviermarkierung darstellen oder einfach da sind, um die eigene Präsenz an möglichst vielen unerlaubten Orten zu feiern?
Natürlich gibt es solche Tags, Gang-Tagging in L.A. zum Beispiel. Andere sind sicher als Vandalismus zu verstehen, als bewusster Akt gegen das Gesetz und gegen den Staat. Aber ich behaupte, dass Tags eine Art Eigenleben führen, fernab von den ihnen zugedachten Zwecken.
Wie meinst du das?
Zuerst entstehen sie aus einem Schaffensakt. Jemand sprüht seinen Tag auf eine Wand, aus welcher Intention auch immer. Dann wird er verlassen. Er bleibt eine Weile an diesem Ort, Passanten gehen an ihm vorüber, vielleicht wird er überschrieben oder irgendwann abgewaschen. Es passiert etwas mit den Tags, sie leben mit der Stadt, mit den Materialien, auf die sie gesprüht worden sind. Und dieser Prozess ist unabhängig vom Tagger. Er kann nicht mehr bestimmen, was mit seinem Tag passiert, dieser entwickelt eine Eigendynamik.
Hast du deshalb deine Ausstellung in drei Teile geteilt; Entstehung – Vermarktung – Auflösung, um diesen Prozess zu veranschaulichen?
Genau, der Lebenskreislauf der Tags wird aufgezeigt: Zuerst entstehen sie. Das sieht man aber als Besucher der Ausstellung nicht, so wie man auch im richtigen Leben selten einen Sprayer erwischt. Man kommt zu spät. Man sieht nur die getaggten Wände. Im zweiten Teil wird die Ausstellung wieder verändert, um die Kommerzialisierung zu thematisieren: Die Tags landen trotz ihres Images als Plage in der Werbung. Tags fristen ein Leben irgendwo zwischen Illegalität und Kommerzialisierung. Um diesen Zwischenraum geht es.
Und der dritte Teil?
Alles wird wieder zerstört. Gleichzeitig eröffnen wir einen Raum, der eine mögliche Zukunft der Tags zeigt.
Wie sieht diese Zukunft denn so aus?
Das verrate ich lieber nicht. Das soll man sich dann eben anschauen kommen.
Warum genau machst du eine Ausstellung über Tags?
Ich beschäftige mich seit zwanzig Jahren mit der Graffiti-Szene. Tags sind sozusagen der Grundstoff für die Streetart, das kleinste Teilchen, das winzige Element, das zu allen anderen führt. Sie sind der Anfang, die Urform. Dennoch werden sie oft – auch von der Szene selbst – als sinnloses und unerwünschtes Gekritzel verurteilt. Der Tag ist im Off. Ein abgeschobenes Thema, dem entweder mit Hass oder Gleichgültigkeit begegnet wird. Das will ich ändern, denn für mich ist das Taggen die eigentliche Königsdisziplin. Die Ausstellung stellt die offene Frage, was Tags neben all den bereits existierenden Attributen, die man ihnen gewöhnlich zuschreibt, noch sein und bedeuten könnten.
Wer sind die Künstler, die deine Wände für die Ausstellung getaggt haben?
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Tagger anonym bleiben. Ich kann nur so viel sagen, die Tagger stammen alle von hier.