Schweiz
Interview

Eric Nussbaumer im Interview: «Europa zu verstehen ist nicht einfach»

«Ich wehre mich – auch in meiner Funktion als Nationalratspräsident – im Kern gegen den Begriff ‹Schwächung›», sagt Eric Nussbaumer (SP). «Die demokratischen Rechte bleiben von A bis Z gewahrt.»
«Ich wehre mich – auch in meiner Funktion als Nationalratspräsident – im Kern gegen den Begriff ‹Schwächung›», sagt Eric Nussbaumer (SP). «Die demokratischen Rechte bleiben von A bis Z gewahrt.»Bild: ch media/Andrea Zahler
Interview

«Europa zu verstehen ist nicht einfach»

Schwächt die dynamische Übernahme von EU-Recht die direkte Demokratie? Nationalratspräsident Eric Nussbaumer wehrt sich entschieden dagegen. Dennoch sieht er Handlungsbedarf – bei Parlament und Bundesrat.
22.07.2024, 06:0122.07.2024, 06:02
Othmar von Matt / ch media
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Wie wichtig ist die direkte Demokratie für die Schweiz?
Eric Nussbaumer:
Sie ist ein wesentliches Element unserer DNA, unseres Staatsverständnisses. Das Referendum, die Initiative und die Art, wie wir mit unseren beiden Parlamentskammern Entscheide fällen, sind wichtige Pfeiler unseres Demokratieverständnisses. Wir haben uns damit über die Jahrhunderte eine einzigartige Stellung erarbeitet – und sollten diese nicht leichtfertig infrage stellen.

Nun sagt aber der Politaktivist Daniel Graf, die dynamische Übernahme von EU-Recht, wie es die Bilateralen III vorsehen, gefährde die direkte Demokratie. Wie sehen Sie das?
Ich wehre mich – auch in meiner Funktion als Nationalratspräsident – im Kern gegen den Begriff «Schwächung». Er ist nicht sachgerecht. Die demokratischen Rechte bleiben bei einer sektoriellen Integration mit der EU von A bis Z gewahrt. Es stimmt nicht, dass die demokratischen Rechte geschwächt werden, wie Daniel Graf in seinem offenen Brief an das Parlament schreibt. Er darf schon morgen eine Unterschriftensammlung starten – und das darf er immer tun.​

Aber?
Natürlich müssen wir demokratische Entscheide im Licht der Vertragsbindung mit der EU und anderer internationaler Verpflichtungen beurteilen. Jedes Ja und jedes Nein hat Konsequenzen. Es hilft aber garantiert nicht, deswegen aus Trotz keine internationalen Verträge mehr abzuschliessen. Die Realität der letzten 25 Jahre zeigt: Die Verträge mit der EU haben der Schweiz sehr viele Opportunitäten gebracht.​

Was sehen Sie für Konsequenzen der Rechtsübernahme bei Abstimmungen?
Wir hatten schon Abstimmungen, bei denen es zu einem leichten Konflikt mit den bestehenden bilateralen Verträgen kam.​

Die Abstimmung zur Aufstockung der EU-Grenzagentur Frontex ist ein Paradebeispiel dafür.
Auch die Abstimmungen zur EU-Waffenrichtlinie und zu den biometrischen Pässen sind Beispiele. Wichtig ist, dass man die Konsequenzen kennt und diskutiert. Der europapolitische Weg der Schweiz steht immer im Spannungsfeld zwischen einem Schweizer Abstimmungsentscheid und dem übernommenen und bereits angewendeten EU-Recht. Im Extremfall kann ein Entscheid tatsächlich dazu führen, dass das Vertragswerk infrage gestellt wird.​

Wachsen diese Spannungsfelder?
Es gibt sie, aber ob sie automatisch zunehmen, weiss ich nicht. Wir schliessen Verträge ab, die in unserem Interesse sind.​

Übernimmt die Schweiz EU-Recht nicht, stehen beim neuen Abkommen Ausgleichsmassnahmen an. Das ist eine Drohkulisse …
… nein, das ist keine Drohkulisse. Da muss ich vehement widersprechen.​

«Das ist keine Drohkulisse. Da muss ich vehement widersprechen»: SP-Nationalrat Eric Nussbaumer.
«Das ist keine Drohkulisse. Da muss ich vehement widersprechen»: SP-Nationalrat Eric Nussbaumer.Bild: CH MEDIA/andrea zahler

Was ist es dann?
Die Schweiz will mit dem neuen Abkommen den EU-Binnenmarkt in gewissen Sektoren auf das eigene Land ausdehnen. Die EU gewährt der Schweiz dieses Sonderangebot für eine sektorielle – also teilweise – Integration als Nichtmitglied. Dafür muss die Schweiz neues EU-Recht in den selber gewählten Bereichen dynamisch nachführen. Will sie Binnenmarktausnahmen, werden Ausgleichsmassnahmen fällig. Damit wird das Spannungsfeld zwischen direkter Demokratie und europäischer Integration geklärt.​

Wie könnten solche Ausgleichsmassnahmen aussehen?
In der Vergangenheit sprach man vor allem über Geld als Ausgleichsmassnahmen. In der gemeinsamen Erklärung zu den bisherigen Gesprächen wird aber auch festgehalten, dass eine Ausgleichsmassnahme, die eigentlich das Abkommen X tangieren, ebenfalls im Abkommen Z gemacht werden kann. Diese Ausgleichsmassnahme muss verhältnismässig sein. Ist sie es nicht, kann die Schweiz vor das Schiedsgericht gehen. Das ist entscheidend. Wir haben einen Rechtsschutz, der heute nicht existiert. Ausgleichsmassnahmen sind deshalb keine Schwächung der Demokratie.​

Was sich mit der dynamischen Rechtsübernahme verändert, ist das Lobbying. Inzwischen sagen selbst Verbände, sie müssten verstärkt in Brüssel aktiv werden.
Ich würde die Veränderung nicht auf das Lobbying reduzieren. Der Bundesrat hat für die Schweiz in Brüssel eine Mission mit etwa 45 Personen geschaffen. Sie versuchen, die Interessen der Schweiz in Brüssel einzubringen, beobachten aber auch, was auf die Schweiz zukommt. Die Schweiz müsste hier jedoch viel mehr tun.​

Wer müsste mehr tun?
Das Parlament – es muss seine Informationsrechte weiter ausbauen.​

Was müsste es tun?
Die Aussenpolitische Kommission (APK) hat eine Subkommission für europapolitische Fragen beantragt und der Nationalrat hat das gestützt. Diese soll evaluieren, welche Entwicklungen in der EU anstehen und für die Schweiz relevant werden. Bisher müssen wir das aus den Zeitungen erfahren oder von der Schweizer Mission. Das reicht nicht.​

Was fordern Sie?
Wie die Kantone braucht das Parlament ein Verbindungsbüro vor Ort, eine Informationsbrücke, die erfasst, was auf das Parlament zukommt. Alle EU-Staaten haben parlamentarische Verbindungsbüros in Brüssel. Selbst Norwegen als EWR-Staat stellt eine Person für die Vorfeldbeobachtung in Brüssel ab. Es ist ein Fehler, dass wir das nicht tun. Das Parlament braucht im Kontext einer Europäisierung die nötigen Instrumente, um rechtzeitig zu sehen, was auf die Schweiz zukommt. Mit einer Schwächung der demokratischen Rechte hat das aber nichts zu tun.​

Die Schwächung könnte darin bestehen, dass Lobbying für kleine Organisationen in Brüssel kaum machbar ist.
Ich teile diese Angst nicht. Es ist für solche Organisationen nicht unmöglich, in Brüssel mit Menschen zu kooperieren und sie zu fragen, ob sie Informationen weitergeben können, damit die Organisation weiss, was auf sie zukommt.​

Staatsrechtler Andreas Glaser sagt, es brauche neue demokratische Rechte, um Probleme der dynamischen Rechtsübernahme zu kompensieren. Zum Beispiel eine Gesetzesinitiative, ein Finanzreferendum oder eine Volksmotion.
Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es auf eidgenössischer Ebene eine Gesetzesinitiative oder ein Finanzreferendum braucht. Mit der europäischen Integration und der Stabilisierung unserer Beziehung mit der EU hat das aber nichts zu tun.​

Braucht es einen Bericht über die Auswirkungen der dynamischen Rechtsübernahme auf die direkte Demokratie?
Wenn man jetzt behauptet, wir hätten nie überlegt, wie das Spannungsfeld zwischen direkter Demokratie und sektorieller europäischer Integration ist, sage ich: Doch, das haben wir. Wir thematisieren dieses Spannungsfeld bei jeder Volksabstimmung. In jeder Gesetzesbotschaft erläutert der Bundesrat die europapolitischen Auswirkungen. Das Spannungsfeld wird transparent ausgewiesen und die schweizerische Demokratie kann damit umgehen.​

Die Geschichte zeigt aber, dass Initiativen wie die Alpen- oder die Masseneinwanderungsinitiative bei einem Ja aus Rücksicht auf die Beziehung mit der EU abgeschwächt werden.
Man kann nicht so tun, als ob die Volksinitiative über dem Völkerrecht stehe. Der völkerrechtliche Vertrag ist mit den Bilateralen I und II ebenfalls demokratisch legitimiert. Wir haben aber inzwischen gelernt, dass wir bei einer Initiative, die nichts kündigen will, gemeinsam eine Lösung suchen müssen. Es braucht also weder neue politische Instrumente noch mehr Studien. Es braucht etwas anderes.​

Was?
Die Frage ist: Machen wir genug Demokratie- und Europabildung? Dieser Punkt klingt im offenen Brief von Daniel Graf auch an und damit liegt er richtig. Wir sind zu einem Land geworden, das von einer Volksabstimmung zur nächsten huscht und glaubt, mit Kampagnen und Pros und Kontras genug Verständnis für die europapolitischen Prozesse zu schaffen. Es wäre aber eine wichtige Aufgabe für die Schweiz, die zivilgesellschaftlichen Akteure zu befähigen, mehr Demokratie- und Europabildung zu betreiben.​

«Die Frage ist: Machen wir genug Demokratie- und Europabildung?»: SP-Nationalrat Eric Nussbaumer.
«Die Frage ist: Machen wir genug Demokratie- und Europabildung?»: SP-Nationalrat Eric Nussbaumer.Bild: ch media/andrea zahler

Macht der Bundesrat genug?
In Sachen politischer Bildung macht er zu wenig. Die Welt ist komplex geworden, die Europäisierung ist komplexer, als wir glauben, die Geschwindigkeiten sind hoch. Wir sind uns sorgfältiges Arbeiten gewohnt. Trotzdem haben wir nur alle drei, vier Monate eine Abstimmungskampagne – dann ist es wieder vorbei. Diesen Kreislauf sollten wir durchbrechen. Wir müssen die politische Bildung in den Schulen und in der nonformalen Bildung stärken. Europa zu verstehen, ist nicht einfach. Es braucht europäisierte Demokratiekompetenz.

Ausgerechnet Aussenminister Ignazio Cassis gibt seit über einem Jahr keine Interviews mehr in Privatmedien. Ist das vernünftig?
Es ist nicht meine Rolle, die Medienarbeit von Herrn Cassis zu kommentieren. Ich glaube aber, dass sich der Gesamtbundesrat ernsthaft überlegen muss, wie er der Bevölkerung Europa und seine Chancen für die Schweiz besser erklärt. Es geht um das Verständnis für den bilateralen Weg, über den wir mehrfach demokratisch entschieden haben. Es geht um ein Vertragsverhältnis, das wir jetzt festigen und stabilisieren wollen. (aargauerzeitung.ch)​

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