Was bedeutet es historisch, wenn ein Dorf verschwindet?
Sebastian De Pretto: Das hängt davon ab, wen man fragt. Jene, die an einem anderen Ort erfolgreich Fuss fassen konnten, blicken häufig positiv zurück. Bei anderen, deren Hoffnungen enttäuscht wurden, überwiegt die Trauer.
Welche Hoffnungen waren das?
Die Wasserkraft galt lange als Fortschrittsmotor. Der Bau eines Stausees versprach Wohlstand: Infrastruktur, finanzielle Einkünfte, bessere Erschliessung und touristischer Aufschwung. Gerade arme Gemeinden liessen sich davon überzeugen. Doch nicht überall wurden diese Versprechen eingehalten und die Erwartungen erfüllten sich nicht. Etwa im Fall des Lago del Sambuco im Tessin, wo der Strassenausbau ausblieb, Touristen fernblieben und das Flussbett der Maggia aufgrund von mangelndem Restwasser austrocknete. Oder auf der Hochebene Emosson im Wallis, wo die erhofften Freizeitinfrastrukturen an den Ufern des gleichnamigen Stausees nie entstanden und die Konzessionsgemeinde am Ende kaum prosperierte.
Anders als bei den Stauseeprojekten handelte es sich bei Blatten nicht um Technik, sondern um ein Naturereignis. Was ändert das?
Der zentrale Unterschied ist, dass Stausee-Umsiedlungen administrativ vorbereitet und auf unterschiedlichen Administrationsebenen demokratisch abgestützt waren. Ist der Untergang des Dorfs hingegen die Folge einer Naturkatastrophe, die man zwar kommen sah, aber nicht verhindern konnte, wird das als traumatischer Verlust erlebt. Die Menschen in Blatten hatten 90 Minuten Zeit, um ihre Häuser zu verlassen. Ein bewusster Abschied war nicht möglich. Das macht das Geschehen besonders traumatisch. Und es zeigt, wie machtlos wir gegenüber den Kräften der Natur sind.
Nach dem Unglück in Blatten flammte die Diskussion wieder auf, ob gefährdete Bergdörfer nicht aufgegeben werden sollten. Wie beurteilen Sie diese Debatte?
Wenn Menschen bleiben wollen, es einen sicheren Standort gibt und die Mittel vorhanden sind, dann soll das möglich sein. Ich halte es nicht nur für gerecht, sondern für moralisch geboten, dass die übrige Schweiz solche Vorhaben unterstützt.
Warum?
Ich sehe eine Verbindung zwischen den Stauseen und Ereignissen wie in Blatten: Die Idee, Natur technisch zu bändigen, ging mit der Nutzung der Wasserkraft einher und förderte diese. Diese Haltung hat spätestens mit der zweiten Industrialisierung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zur Klimaerwärmung beigetragen, deren Folgen wir heute – etwa in Form schmelzender Permafrostböden und einstürzender Berge – zunehmend zu spüren bekommen. Während die klimaschädlichen Emissionen vor allem in den Städten und Industriestandorten entstehen, stammen die Ressourcen, die für die Energienutzung gebraucht wurden – Wasser, Boden –, aus den Bergen.
Der Wasserzins ist ein etabliertes Instrument, mit dem Bergregionen für diese Dinge entschädigt werden. Reicht das nicht?
Das ist ein einfaches Argument, aber historisch nicht sehr fundiert. Der Wasserzins wurde bei dessen Einführung während des Ersten Weltkriegs vom Nationalrat gedeckelt und erst in den 1950er- und 1970er-Jahren erhöht. Die Abgeltung lag daher jahrelang unter dem realen Wert. Auch die Abgeltungen für die Flächen, die es für die Infrastruktur der Wasserkraft braucht, war vielerorts zu tief oder entsprach dem Minimalangebot der Energieunternehmen, deren Vertreter in den Dörfern geschickt zu verhandeln wussten. Es geht mir bei dieser Diskussion zwar nicht darum, Stadt und Land gegeneinander auszuspielen. Doch die historische Verantwortung muss benannt werden.
Welche Rolle spielen die Medien?
Bei den Stauseeprojekten waren die Medien zentral. Die Betroffenheit der Einheimischen spielte oft eine untergeordnete Rolle, ökonomische Interessen standen im Zentrum. Ein gutes Beispiel ist die Göscheneralp im Kanton Uri, die ganzjährig bewohnt war, bis sie für einen Stausee aufgegeben wurde. Dies geschah, nachdem ein Alternativprojekt im Urserental aufgrund des Widerstands der betroffenen Gemeinden und des Kantons gescheitert war. Andermatt erhielt damals auch Unterstützung von Natur- und Heimatschutzverbänden; geschickte Gegenkampagnen sorgten für landesweite Aufmerksamkeit. Die Zustimmung zur Göscheneralp verlief vergleichsweise ruhig: ein strukturschwaches Sackgassental, das dem Kanton keine Einnahmen brachte, vermehrt von Lawinen getroffen wurde und nach der Flutung schnell aus dem kollektiven Bewusstsein verschwand.
Was bedeutet das für Blatten?
Es wird wiederum entscheidend sein, wie die Schweizer Medien die Debatte gestalten. Dennoch herrschen heute andere Voraussetzungen: Internet und soziale Medien schaffen grössere Aufmerksamkeit. Das beeinflusst wohl auch Entschädigungsfragen. Zudem schätzt man abgelegene Bergdörfer als Ausflugsziele heute mehr als früher. Damals galten die Alpen vor allem als ein Energiespeicher sowie eine rückständige Region, die es der Moderne anzuschliessen galt. Heute, in Zeiten überhitzter Städte, bieten sie hingegen eine landschaftliche Ressource für Erholung, Kühle, Lebensqualität.
In Blatten sollen schon spätestens 2030 wieder Menschen im alten, dann wieder freigelegten Dorfkern leben, wo es einen Dorfplatz und eine Kirche geben wird. Welche Rolle spielen Plätze und Gebäude für das kollektive Gedächtnis?
Zentrale Orte wie Kirchen, Schulhäuser, Wirtshäuser, Dorfplätze oder Friedhöfe prägen das kollektive Leben. In neuen Dörfern wurden solche Orte oft nachgebildet – wie nun auch in Blatten. Nicht nachbauen kann man aber Archive und Museen, womit das dort aufbewahrte kulturelle Erbe leider verloren geht.
Dieses lebt aber nicht nur in Dokumenten, sondern auch in Ritualen und Bräuchen. Das Lötschental zum Beispiel ist bekannt für die Tschäggättä: Fasnachtsfiguren, gehüllt in Holzmasken mit grimmigen Gesichtern verziert, die die Geister des Winters vertreiben und die Freude der Fasnacht zu verbreiten.
Genau, solche Rituale geben Halt und es ist wichtig, dass sie weitergelebt werden. Vielleicht entsteht in Blatten auch ein neuer Brauch: ein Gedenktag an die Eis-Geröll-Lawine zum Beispiel. Solche Erlebnisse verbinden Dorfgemeinschaften nochmals auf eine ganz neue Art und Weise.
Gab es ähnliche neue Rituale in anderen Fällen?
Mir ist kein Beispiel bekannt. Im Gegenteil: Es wurde bewusst verhindert, dass sich Erinnerungskulturen entwickeln, weil man sich davor fürchtete, dass dadurch Widerstandszellen im Untergrund, Ressentiments gegen die Energiekonzerne, entstehen könnten. Beim Reschensee in Südtirol etwa sieht man heute noch bei Niedrigwasser die Überreste des alten Dorfs, der Kirchturm ragt aus dem See. In der Schweiz wollte man kein zweites Reschen, sodass man beispielsweise bei Marmorera im Juliertal alle Gebäude mitsamt der Kirche vor der Seestauung abgerissen hatte. So sollten auch die Erinnerungen an die untergegangenen Orte verschwinden.
Wie ordnen Sie die früheren Wiederaufbaubemühungen und Umsiedlungen ein?
Früher versuchte die damalige Schweizerische Vereinigung Innenkolonisation und industrielle Landwirtschaft (SVIL), Modellsiedlungen am Reissbrett zu entwerfen – sehr technokratisch – und praktisch keine davon hat die Erwartungen der Ingenieure erfüllt. Die Umgesiedelten verliessen sich oftmals lieber auf ihr eigenes Urteilsvermögen und suchten selbst einen neuen Niederlassungsort. Gerade in landwirtschaftlich geprägten Regionen sind Exposition, Bodenqualität, Mikroklima sowie das standortgebundene Wissen um den Umgang mit den vorhandenen Ressourcen entscheidend und liessen sich damals kaum präzise genug im Voraus kalkulieren. Standorte für neue Bauernhöfen allein reichen nicht. Und: Wenn die landwirtschaftliche Produktion wegbricht, verschwinden auch die lokal hergestellten Produkte, die von der Sennerei gesammelt, im Dorfladen verkauft oder im Restaurant vermarktet werden können. Ebenso geht die lokale Nachfrage nach Werkzeugen oder anderen Bedarfsprodukten der lokalen Landwirtschaft zurück, weshalb Kleinhändler ihre Kundschaft verlieren. Es ist eine Kettenreaktion.
An welche Beispiele denken Sie konkret?
Historisch zeigt sich das etwa in Einsiedeln: 55 Landwirtschaftsbetriebe mussten für den Sihlsee weichen, 1700 Menschen umgesiedelt werden. Viele von ihnen zogen an einen ganz anderen Ort, zum Beispiel nach Amerika, wo sie sich mit den Entschädigungszahlungen ein neues Leben aufbauten. Auch das Dorf Innerthal im Wägital musste für den Wäggitalersee aufgegeben werden. Das Dorf wurde neu errichtet, doch viele gingen woanders hin, nur eine Minderheit siedelte ins neue, von der SVIL entworfene Dorf um.
Was kann man daraus für Blatten lernen?
Schon in der Nachkriegszeit hat man begonnen, von der Idee der Plansiedlungen wegzukommen. Man hat eher versucht, die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner bei den Realersatz-Forderungen oder beim Umzug zu beraten und sie in einem nahegelegenen Dorf unterzubringen. Entscheidend ist und wird auch für Blatten die Partizipation der Dorfbevölkerung sein. Die Menschen müssen mitbestimmen, wo das neue Dorf errichtet und wie dieses gestaltet werden soll. Die Verhandlungen müssen fair und transparent verlaufen, ohne falsche Versprechen. Und Entschädigungen müssen gerecht verteilt werden – sonst droht die Spaltung der Dorfgemeinschaft.