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Du willst nur das Beste? Voilà:
54 Stimmen haben bei der Abstimmung am Sonntag gefehlt. Sind Sie enttäuscht?
Johanna Gündel: Natürlich sind wir enttäuscht, sehr sogar. Wir waren im Vorfeld positiv eingestellt, wir haben fest damit gerechnet, dass wir gewinnen.
Wieso waren Sie derart zuversichtlich? Es war doch immer klar, dass es knapp werden würde.
Wir haben meines Erachtens einen guten Abstimmungskampf geführt, wir sind immer auf der sachlichen Ebene geblieben, haben versucht, auf die Ängste und Unsicherheiten der Bevölkerung einzugehen. Kurz: Wir sind uns selber treu geblieben. Im Nachhinein muss man sagen, wahrscheinlich waren die Meinungen schon derartig gefestigt, sodass man auch mit Fakten nicht mehr daran rütteln konnte.
Gemeindepräsident Andreas Glarner kolportiert im Blick, dass die IG angesichts des knappen Resultats eine Nachzählung verlangen könnte. Planen Sie eine Nachzählung?
Davon weiss ich nichts.
Trotz der Abstimmungsniederlage: Ganz vorbei ist die Debatte nicht.
Genau, jetzt muss der Gemeinderat der Gemeindeversammlung ein neues Budget für das Jahr 2016 vorlegen.
Theoretisch könnten Sie da wieder den Antrag stellen, das Geld nicht für die Ersatzzahlungen zu verwenden.
Das werden wir sicher nicht tun. Wir akzeptieren das Abstimmungsergebnis. Wenn die Mehrheit sagt, das wollen wir nicht, dann muss man das so zur Kenntnis nehmen. Das ist dann die – wenn auch knappe – Mehrheitsmeinung des Dorfes. Ohnehin haben wir durch die Urnenabstimmung die grösstmögliche Zahl an Stimmbürgern erreicht, es fragt sich, was eine erneute Abstimmung an der Gemeindeversammlung oder an der Urne, falls es zu einem Referendum kommt, am Ausgang ändern würde.
Und wie sehen die Pläne der IG Solidarität mittelfristig aus?
Nächstes Jahr sind in Oberwil-Lieli Gemeinderatswahlen. Wir werden schauen, ob es ob Änderungen in der Zusammensetzung des Gemeinderats gibt und je nachdem erneut den Dialog suchen. Allerdings gibt es schon noch ein paar Punkte, die wir noch thematisieren werden.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel, dass uns der Gemeinderat das Protokoll der Gemeindeversammlung vom vergangenen November nach wie vor nicht herausgibt, etwas, worauf wir seit Dezember pochen. Das werden wir sicher nochmals aufrollen. Denn aus den Protokollauszügen, die im Laufe des Beschwerdeverfahrens publik wurden, geht hervor, dass das Protokoll den Hergang an der letzten Gemeindeversammlung nicht korrekt wiedergibt.
In den Tagen kurz vor der Abstimmung gab es vonseiten der IG Zensurvorwürfe an die Adresse des Gemeinderats. Worum ging es da genau?
Der Gemeinderat hat vor einiger Zeit Zahlen zu den Asylbewerbern publiziert, die so einfach nicht stimmen. Unter anderem schrieb er, dass die Gemeinde einen Grossteil der anfallenden Kosten für die Asylsuchenden nach fünf Jahren selber übernehmen müsste. Wir haben daraufhin eine Abklärung beim Kanton gemacht, welche Kosten der Aargau übernimmt, welche Kosten auf die Gemeinde übertragen wird, und so weiter. Die Zahlen, die wir vom Sozialdepartement erhalten haben, wurden vom Gemeinderat bestritten. Dabei haben Glarner und Co. in ihrer Berechnung ausgeblendet, dass wir uns auf Personen mit Flüchtlingsstatus F beziehen …
... vorläufig Aufgenommene, deren ihre Flüchtlingseigenschaften anerkannt werden, die jedoch aus einem bestimmten Grund kein Asyl erhalten.
Wir haben den Gemeinderat also aufgefordert, seine Aussagen zurückzunehmen und haben zu diesem Zweck einen Beitrag im Oberwil-Lieler Publikationsorgan «Wochenfalter» geplant. Kurz vor der Veröffentlichung meldete sich der Chefredaktor, er sei von der Gemeindeschreiberin und später auch von Glarner persönlich angegangen worden: Unser Beitrag dürfe so nicht erscheinen. Der Redaktor ist eingeknickt, hat den Vorgang aber immerhin transparent gemacht. Glarner rechtfertigte die ganze Aktion damit, dass die Zeit für eine Stellungnahme nicht mehr gereicht habe. Für mich ist das eine fadenscheinige Behauptung.
Sie nennen es Zensur.
Ja. Man kann doch als Obrigkeit im offiziellen Organ der Gemeinde nicht einfach diejenigen Stimmen abklemmen, die eine andere Meinung vertreten.
Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung einer Gemeinde haben sich offen gegen die Aufnahme von Asylsuchenden ausgesprochen: Ist es in einem solchen Fall vielleicht nicht sogar besser für die – theoretisch – betroffenen Personen, wenn sie woanders untergebracht werden?
Nein, das tönt nach Kapitulation. Wenn diejenigen, die heute Asylsuchende ablehnen, diese Menschen kennenlernen, ihre Gesichter sehen, ihre Geschichten erfahren, dann bin ich überzeugt, werden sie ihre Meinung ändern. Schauen Sie doch in die Städte, wo man tagtäglich in Kontakt mit Fremden ist, da funktioniert das problemlos. Auf dem Land hingegen, wo gar keine Begegnungen stattfinden, ist die Angst gross.
Man sollte die Menschen also dazu zwingen, miteinander in Kontakt zu treten?
Niemand spricht von Zwang. Man kann niemanden zwingen, mit einer Person Zeit zu verbringen. Jedoch soll man Begegnungsräume schaffen und den Leuten ermöglichen, diese Personen im Alltag anzutreffen.
Sie wurden, seit Sie sich in der der IG Solidarität engagieren, nicht immer mit Samthandschuhen angefasst. Wie haben Sie persönlich den Abstimmungskampf wahrgenommen?
Ich habe das nicht so dramatisch erlebt. Klar, es gibt manchmal Einzelpersonen, die gegen einen schiessen, auch in den Kommentarspalten der Medien gibt es Angriffe unter der Gürtellinie. Aber das berührt mich aber nicht. Ohnehin haben wir vor allem aus den Medien selber sehr viel Unterstützung erfahren. Ich persönlich und die IG.
Sind politisch exponierte Frauen, noch dazu, wenn sie eher jung sind, ein Reizthema? Flavia Kleiner, die Präsidentin der Operation Libero etwa sah sich während und nach der DSI-Abstimmung auch unzähligen feindseligen Kommentaren ausgesetzt, nicht nur in der Anonymität der sozialen Medien, Justizministerin Simonetta Sommaruga ist das erklärte Feindbild der Rechten Asylhardliner. Oder anders: Hat die Politik ein Problem mit Frauen?
Es ist heutzutage leider immer noch so, dass Politik von Männern dominiert wird, dass Politik eine Männerdomäne ist. Politisch engagierte Frauen, insbesondere junge, werden tatsächlich noch immer als exotische Wesen wahrgenommen, auch bei den Medien. Bei meinen gleichaltrigen männlichen Kollegen aus der Kanti, die heute im Grossrat aktiv sind, bleibt seitens Bevölkerung und Medien die Aufgeregtheit aus. Früher oder später jedoch müssen sich all die Personen, die allergisch auf Frauen in der Politik reagieren, damit abfinden, dass auch Frauen eine starke Stimme haben und ihr Platz in der Politik berechtigt ist.
Der Sprecher der IG-Solidarität, Martin Uebelhart, sagte nach der Abstimmung, das Dorf sei gespalten. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, man merkt, dass sich die Fronten verhärtet haben. Das monatelange Hin und Her ist nicht spurlos an Oberwil-Lieli vorbeigegangen. Nicht, dass daran Freundschaften zerbrochen wären, das nicht, aber eine Spaltung hat es definitiv gegeben.
Glarner gab sich nach der Abstimmung versöhnlich. Man müsse sich nun die Hand reichen, so seine Forderung. Ist das überhaupt noch möglich? Oder ist da zu viel Geschirr zerbrochen, um zum Courant normal zurückzukehren?
Im Nachhinein ist es als Sieger sicher einfach, sich konziliant zu geben. Glarner hat aber im Wahlkampf sein wahres Gesicht gezeigt: Anonyme Flugblätter, die Weigerung, demokratische Spielregeln einzuhalten, die Zensur im Wochenfalter. Das steht einem Gemeindeammann einfach nicht. Immerhin sollte er doch in seiner Funktion die Bevölkerung der ganzen Gemeinde vertreten, und nicht nicht nur diejenigen, die seine eigenen Interessen teilen.
Geht es in der ganzen Flüchtlingsdebatte eigentlich wirklich noch um die Flüchtlinge oder nicht viel mehr um die politischen Ambitionen eines Politikers?
Für mich persönlich und für uns als IG Solidarität ging es natürlich um Flüchtlinge. Wir haben uns auch vor Anfang an gesagt, wir betreiben keine Parteipolitik, sondern setzen uns für die Menschlichkeit und Solidarität in der Flüchtlingsdebatte ein. Bei unserem Gemeindeammann jedoch wage ich schon zu behaupten, dass diese ganze Situation, initiiert durch den ARD Beitrag, der Profilierung als SVP-Hardliner galt.
Würden Sie sagen, dass Sie Andreas Glarner mit Ihrem Engagement in die Hände gespielt haben?
Das denke ich nicht. Ich glaube, Glarner hatte nicht mit einer so starken Gegenreaktion auf seinen öffentlichen Auftritt gerechnet. Auch wenn es nach aussen scheint, dass ihn diese Situation an die Politikspitze katapultiert hat, musste er in den letzten Monaten ganz schön viel wegstecken, weil viele seiner Fehltritte in dieser Zeit sofort publik gemacht wurden. Nicht zuletzt musste er einsehen, dass die Hälfte unserer Gemeinde seine Politik nicht gutheisst. Dies kratzt ganz schön am Image des Dorfkönigs, der immer darauf beharrt hatte, dass es lediglich ‹eine laute, jedoch kleine Minderheit› sei, die nicht mit seiner Politik einverstanden sei.