Eigentlich könnte Claus-Peter Reisch ein ruhiges, geordnetes Leben haben. Als selbstständig Erwerbender steht er finanziell auf sicherem Boden, mit seinem eigenen Segelboot zieht es ihn immer wieder in die Ferne. Doch jetzt ist Reisch zwischen die Fronten geraten. In Deutschland prangte sein Antlitz auf jeder Tageszeitung.
Es ist 2015 als Reisch mit seiner Lebenspartnerin im Sommer nach Griechenland segelt. Die Flüchtlingskrise ist bereits in Gang. Er stellt sich die Frage: «Was tun wir, wenn wir auf ein Flüchtlingsboot treffen?» Zwar trat dieser Fall nicht ein, doch Reisch beschäftigt das Thema weiter. Ein Jahr später beschliesst er, sich ein eigenes Bild von der Situation auf dem Mittelmeer zu machen. «Es wurde so viel gesagt und geschrieben, über die Schlepper, über die Vor- und Nachteile von Seenotrettung. Ich wollte wissen, was die Wahrheit ist», sagt Reisch.
Was er sieht, hinterlässt Spuren. Er beschliesst, seine jahrelange Erfahrung als Schiffskapitän zu nutzen, um Leben zu retten. Im April 2017 fährt er seine erste Mission. Insgesamt ist er inzwischen sechs solche Einsätze gefahren. Die meisten für die Dresdner Nichtregierungsorganisation «Mission Lifeline».
Doch die letzte Mission geht schief. Nachdem Reisch sein Schiff tagelang über das Mittelmeer steuert, weil kein Hafen ihn und die Flüchtlinge an Bord aufnehmen will, endet die Fahrt schliesslich mit seiner Verhaftung in Malta. Die einen werfen ihm vor, einen Shuttle-Service von Libyen nach Italien zu betreiben, die anderen sagen, er sei ein Held.
Und Reisch? Nun, er ist ungewollt zum Symbol der heissesten Debatte dieses Sommers geworden.
Herr Reisch, Sie wollten Flüchtlinge
vor dem Ertrinken retten, jetzt müssen Sie vor Gericht. Was ist
passiert?
Claus-Peter Reisch: Angeklagt bin ich, weil man mir
vorwirft, dass das Schiff «Lifeline», nicht richtig registriert sei. Bei dem ganzen Schmierentheater geht es also – salopp gesagt – um
einen blauen Zettel, und ob der gültig ist oder nicht.
Aber im Grunde geht es um mehr.
Nämlich um die Debatte, ob Seenotrettung auf dem Mittelmeer zulässig
ist oder nicht.
Ja, als Kapitän
der «Lifeline» bin ich zum Bauernopfer geworden für eine
Diskussion, die derzeit ganz Europa bewegt. An meinem Fall soll ein
Exempel statuiert werden. Die rechten Regierungen der EU brauchen ein
Opfer, damit sie die ganzen Schiffe der Seenotretter aus dem Verkehr
ziehen können.
Ihnen droht eine Strafe bis zu
11'600 Euro oder ein Jahr Haft.
Es ist grotesk.
Aber wissen Sie was? Ich gehe mit erhobenen Hauptes vor Gericht. Ich
habe mir nichts vorzuwerfen. Sollte ich tatsächlich dafür
verurteilt werden, dass ich mit einem angeblich nicht gültigen
blauen Papier Menschen vor dem Ertrinken gerettet habe, dann verstehe
ich Europa nicht mehr.
Mit 230 Flüchtlingen an Bord
irrten sie Ende Juni fast eine Woche lang über das Mittelmeer. Kein
Hafen liess Sie anlegen. Wie erlebten Sie diese Tage?
Wir
evakuierten auf dieser Mission vier Schlauchboote und retteten
insgesamt 450 Menschen. Die Hälfte der Geretteten konnten wir an
Handelsschiffe übergeben, die restlichen blieben bei uns an Bord.
Als ich, so wie es üblich ist, die Seenotrettungsstelle in Rom
fragen wollte, in welchen Hafen ich die Menschen bringen soll,
erhielt ich keine Antwort.
Wussten Sie warum?
Ich hatte ja mitbekommen, dass die
europäischen Regierungen miteinander streiten, wer die Flüchtlinge
aufnehmen soll. Ich steuerte dann das Schiff vor die Küste Maltas
und fuhr dort fünf Tage lang auf und ab.
Warum fuhren Sie nicht nach
Italien?
Das wär' eine Möglichkeit gewesen. Aber wenn ich in
die italienische Rettungszone einfahre, dann habe ich nur noch einen,
mit dem ich mich unterhalten kann und das ist der Herr Salvini.
(italienischer Innenminister und Lega-Politiker, Anm. d. Red.) Ich
glaube nicht, dass das eine gute Idee gewesen wäre.
Also war es eine politische
Überlegung?
Ich musste mir einerseits überlegen, wie ich das
Schiff steuere, wie ich mit den Wind- und Wetterbedingungen umgehe
und andererseits, wie ich den Menschen an Bord gerecht werde. Darum
fuhr ich nicht nach Italien und sagte mir, dass wir das jetzt
durchhalten, bis eine Lösung gefunden ist.
Wie muss man sich das vorstellen,
fünf Tage mit 234 Flüchtlingen an Bord?
Mit der Crew waren es 250 Personen,
über die ich als Kapitän die Verantwortung hatte. Wir stellten
unsere Schichten so ein, dass wir sämtliche Leute an Bord alle drei
Stunden wecken konnten. Denn die Seekrankheit macht müde und man
schläft ein, trinkt und isst nicht mehr. So sterben die Leute ganz
leise. Ich habe pro Tag höchstens vier Stunden geschlafen. Es war
sehr schwierig.
Was waren das für Menschen an Bord?
Unter den Flüchtlingen waren 77
unbegleitete Minderjährige, vier Babies, 17 Frauen, darunter eine
Schwanger. Es gab drei Burschen, sie waren zwölf und dreizehn Jahre
alt, die alleine unterwegs waren. Sie hielten zusammen wie Pech und
Schwefel. Dann hatte es einen Mann, Somalier, der wog höchstens noch
45 Kilogramm. In Libyen haben sie ihn dreimal total verprügelt und
misshandelt, während er seine Familie anrufen musste, um noch mehr
Geld zu erpressen. Er kam zu uns aufs Schiff mit einem Leistenbruch
und einem eingeklemmten Darm, der abzusterben drohte. Zum Glück
konnten wir ihn dann notfallmässig evakuieren und auf ein
Rettungsboot abgeben, sonst wäre er gestorben.
Wussten die Leute an Bord, was
passiert und warum das Schiff nicht anlegen kann?
Sie stellten Fragen, die wir ihnen
versucht haben zu beantworten.
Wissen die Flüchtlinge, wie in Europa derzeit über die Migrationspolitik verhandelt wird?
Nein, die Leute haben keine Ahnung auf
was sie sich einlassen.
Nach fünf Tagen konnten Sie am
Hafen von Malta anlegen. Noch am gleichen Tag wurden Sie von der
Polizei vernommen. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Ich dachte an die
die Menschen, die ertrinken, während wir über die Gültigkeit eines
internationalen Bootzertifikats streiten. Einen anderen Vorwurf haben
sie ja nicht gegen mich. Ich habe nicht gegen das internationale
Seerecht verstossen, ich habe nicht mit den Schleppern zusammengearbeitet. Die Justiz hat nur dieses blaue Stück Papier, an
dem sie sich verzweifelt festhält. Wir streiten nicht über die
Seenotrettung und darüber, dass vor der libyschen Küste Menschen
jämmerlich ersaufen.
Die Öffentlichkeit debattiert
jetzt, ob Sie ein Held oder ein Krimineller sind. Wie gehen Sie mit
der Kritik um?
Diese Frage macht
mich wütend und lässt mich manchmal fast verzweifeln. Den Leuten,
die mir sagen, ich würde einen Mittelmeer-Tourismus betreiben rate
ich, selbst mal dorthin zu fahren und sich das mit eigenen Augen
anzusehen. Ich sehe, was dort abgeht, ich habe die Informationen aus
erster Hand. Doch man hackt auf mir und den
anderen Nichtregierungsorganisationen rum. Die Schiffe sitzen jetzt
seit bald einem Monat in den Häfen fest, die Suchflugzeuge erhalten
keine Starterlaubnis mehr. Die Folge ist, dass mehr Menschen ertrinken. Im Juni waren es 629 und im Juli über 200 dokumentierte. Die Dunkelziffer ist viel höher.
Eine Kritik
ist, dass sich gerade wegen den NGOs immer mehr Flüchtlinge aufs
Meer wagen.
Das
stimmt einfach nicht! Die Schlepper interessieren sich null dafür,
ob wir da sind oder nicht. Ansonsten würden jetzt, wo die ganze Welt
weiss, dass keine NGOs mehr auf dem Mittelmeer sind, keine Flüchtlingsboote mehr ablegen. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist denen völlig
egal, ob die Menschen sterben. Das Geschäft ist dann gemacht, wenn
die Flüchtlinge aufs Wasser geschoben werden. Das sind Mörder.
Und
welche ist Ihre Rolle?
Man kann uns sozusagen als eine Art
Notarzt sehen. Doch das Bild, das von mir und von anderen Helfern der
NGOs gezeichnet wird, ist völlig falsch. Weil hinter uns kein
mächtiges Unternehmen steht, sind wir eine leichte Beute für solche
polemische Aussagen. Wissen Sie, sechzig Prozent der Flüchtlinge
werden von Handelsschiffen und vom Militär gerettet, nicht von uns.
Aber keiner traut sich, etwas gegen die damalige Marineoperation Mare Nostrum oder die jetzige Operation Sophia zu sagen, die ebenfalls Seenotrettungen vornehmen. Dann würde man ja einen Staat angreifen. Einer NGO
lässt sich leichter in den Hintern treten.
Die
Kontroverse um Ihre Person ist eine stellvertretende. Im Zentrum
steht die Frage, wie Europa mit der Migration umgehen soll. Wie
denken Sie darüber?
Ich finde es
beschämend, dass ein Horst Seehofer (Deutscher Innenminister, Anm.
d. Red.) sich öffentlich darüber freuen kann, wenn an seinem 69.
Geburtstag 69 Flüchtlinge abgeschoben werden. Ich finde es
befremdend, wenn ein Matteo Salvini von «Menschenfleisch», das
transportiert wird spricht. Solche Aussagen sind so widerlich. Ich
weiss nicht, wie man so was über die Lippen bringt. Ich dachte
eigentlich, dieser Jargon sei vor siebzig Jahren für immer begraben
worden.
Sie sind Bayer,
wo die Christlich-Soziale Union mit Horst Seehofer die grösste
Partei ist.
Und wissen Sie
was? Auch ich habe früher die CSU gewählt. Ich habe damals sogar
für Herrn Seehofer gestimmt. Jeder macht mal Fehler. Ich bin
eigentlich ein stolzer Europäer, ich liebe meine Heimat Bayern und
ich bin im Grunde ein konservativer Bayer. Aber Bayern war immer ein
weltoffenes Land. Unser Leitspruch ist: «Leben und
leben lassen». Davon ist nicht mehr viel spürbar.
Was hat sich geändert?
Der gesamte
Diskurs um die Migration hat sich verlagert. Die Debatte wird von dem
rechten politischen Spektrum, dazu zähle ich inzwischen auch die
CSU, mit Ängsten befeuert, die durch nichts verifizierbar sind. Die
sprechen von Überfremdung, von einer Überflutung Europas. Dabei kommen
derzeit so wenige wie seit Jahren nicht mehr über das Meer. Auch kann
man von der EU nicht wirklich mehr von einer Solidargemeinschaft
sprechen. Geht es darum, Geld aus dem grossen Topf zu nehmen, langen
alle zu. Doch mit anpacken wollen die wenigsten.
Nebst Kritik erhalten Sie auch viel Unterstützung für Ihr Engagement. Der
Fernsehmoderator Jan Böhmermann hat in einer Videobotschaft zur
Spende für Ihre Anwaltskosten aufgerufen. In kürzester Zeit sind
200'000 Euro zusammengekommen.
Ich hatte noch
keine Gelegenheit mich persönlich bei Jan Böhmermann zu bedanken,
aber seine Unterstützung ist sehr wertvoll für uns. Er ist eine
gewisse Institution, bringt viele Leute auf seine Seite. In diesem
Sinne kann ich der ganzen Geschichte auch etwas Positives abgewinnen.
Die Mission «Lifeline» war der Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen gebracht hat. Dank meinem Fall zeigen viele Menschen
jetzt Flagge.
Sie haben Ihr Leben mit Ihrem
Einsatz für die Mission «Lifeline» völlig auf den Kopf
gestellt. Machen Sie weiter?
Eigentlich wollte
ich noch eine Mission fahren, danach nach Hause kommen, mich um
meinen Garten kümmern und danach mit meiner Lebenspartnerin in den
Urlaub verreisen. Doch fällt das Urteil gegen mich negativ aus,
werde ich es an die nächste Instanz ziehen. Wenn nötig, klage ich
mich bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durch.
Ich bin jemand, der verlässlich ist und die Dinge bis zum Schluss
durchzieht.