Hol dir jetzt die beste News-App der Schweiz!
- watson: 4,5 von 5 Sternchen im App-Store ☺
- Tages-Anzeiger: 3,5 von 5 Sternchen
- Blick: 3 von 5 Sternchen
- 20 Minuten: 3 von 5 Sternchen
Du willst nur das Beste? Voilà:
Mittwochnachmittag, Kreis 4, Zürich: Auf der Terrasse der Cafeteria Felix & Regula sitzen rund 30 Asylbewerber beim Mittagessen. Jeden Mittwoch organisiert Solinetz hier einen Mittagstisch. Das Essen ist gratis, heute gibt es Couscous mit Bohnen.
An einem Gartentisch im Schatten sitzen zwei Männer und unterhalten sich mit gedämpfter Stimme. Ich gehe zu ihnen, stelle mich kurz vor und frage, aus welchem Land sie kommen. «Eritrea». Ich sei Journalist, ob sie Lust hätten mir von ihrer Reise von Eritrea in die Schweiz zu erzählen, fahre ich fort. «Natürlich, kein Problem», meinen sie, «aber zuerst holst du dir auch etwas zu essen und setzt dich nachher zu uns».
Mit einem vollen Teller kehre ich zurück und nehme neben Aziz und Idris platz (Namen von der Redaktion geändert). Aziz spricht Englisch, ein wenig Deutsch und übersetzt für Idris. Zusammen erzählen sie mir die Geschichte, wie Idris von Eritrea über das Mittelmeer in die Schweiz geflüchtet ist.
«Es ist Sommer im Jahr 2012: Ich bin jetzt 18 Jahre alt. Seit einigen Monaten diene ich für die Armee. Das muss jeder junge Mann hier in Eritrea, es herrscht Wehrpflicht. Stationiert bin ich in Sawa, einem Armeestützpunkt ganz im Osten des Landes.
Die Zeit hier ist die Hölle. Wir haben kaum zu essen und zu trinken. Misshandlungen, Gewalt, Schläge: Das ist hier Alltag. Deswegen beschliesse ich, von hier abzuhauen. Zu desertieren, auch wenn man in Eritrea für dieses Delikt lange ins Gefängnis kommen kann. Bis zur sudanesischen Grenze sind es keine 20 Kilometer, das schaffe ich.
Doch ich täusche mich, kurz vor dem Grenzübergang fassen sie mich. Eritreer, die mich umgehend in den Knast stecken. Ein halbes Jahr muss ich im Gefängnis ausharren. Eine Aussage machen darf ich nicht, einen Richter bekomme ich nie zu Gesicht. Ich werde gefoltert, muss hungern und bekomme fast nichts zu trinken. Dabei habe ich doch niemandem etwas getan.»
Seit Eritrea im Jahr 1993 die Unabhängigkeit erlangt hat, wird es von derselben Person regiert: Isayas Afewerki. Der 68-Jährige herrscht mit eiserner Hand über die sechs Millionen Einwohner und erstickt sämtliche Opposition bereits im Keim. Auf der Rangliste der Pressefreiheit (Press Freedom Index) belegt Eritrea den letzten Platz. Hinter Nordkorea.
Bis zu 200 Internierungslager soll es gemäss Amnesty International in Eritrea geben. Es wird geschätzt, dass das Afewerki-Regime bis zu 10'000 politische Gefangene hält. Manche sitzen bis zu 20 Jahren im Gefängnis, ohne je vor ein Gericht zu gelangen. (Einen spannenden Artikel von Amnesty International zu diesem Thema findest du hier.)
Wirtschaftsflüchtling? Nein, das ist Idris nicht. Er wird politisch verfolgt, weil er der Armee entkommen wollte.
«Eines Tages werde ich völlig unerwartet aus dem Gefängnis entlassen. Ich habe Glück, ich bin erst 19 Jahre alt und war nur ein halbes Jahr eingesperrt. Vielleicht bin ich verhältnismässig früh rausgekommen, weil ich noch so jung bin. Vielleicht aber auch nicht. Wer weiss das schon in diesem Land?
Ich muss weg von hier. Nie wieder möchte ich in einen eritreischen Knast. In Asmara nehme ich Kontakt zu einer Schlepperbande auf. 2000 Dollar kostet die Überfahrt nach Äthiopien. Viel Geld für einen kurzen Weg. Meine Familie nimmt einen Kredit auf. Die Zinsen sind zwar hoch, doch wenn ich es einmal bis nach Europa geschafft habe, kann ich ihnen das Geld ja vielleicht zurückschicken.
Ja, Europa ist mein Ziel. Der Weg dorthin ist lange und ich muss grosse Risiken eingehen. Viele Leute sterben auf der Flucht, das weiss ich. Doch alles ist besser als das Gefängnis oder die Armee in Eritrea.
Die Reise nach Äthiopien ist kurz und geht ohne grössere Probleme über die Bühne. Für weitere 1600 Dollar finde ich eine Organisation, die mich nach Libyen bringen soll.
Per Pick-up fahren wir über die Grenze in den Sudan, wir sind 35 bis 40 Leute auf dem Fahrzeug. Es ist zu eng, zu heiss und wir haben nur wenig Verpflegung. Quer durch die Sahara geht es in Richtung Norden zur libyschen Grenze.
Die Wüstenhitze ist fatal. 15 Personen auf meinem Transporter fallen den Strapazen zum Opfer. Oder sind es bereits 20? Ich weiss es nicht. Die leblosen Körper werden einfach im Sand zurückgelassen.»
Die Sahara erstreckt sich über neun Millionen Quadratkilometer, das entspricht rund 225 Mal der Fläche der Schweiz. Selbst im Schatten verliert ein Erwachsener rund einen Liter Wasser pro Stunde, die Temperaturen klettern tagsüber auf bis zu 55 Grad.
Man merkt es Idris beim Erzählen deutlich an, dieser Teil der Route nach Europa war für ihn der härteste, der gefährlichste. Die Chance, in der Wüste zu verdursten, war viel höher, als im Mittelmeer zu ertrinken. Die Sahara ist in den letzten Jahren offenbar ein Massengrab für Flüchtlinge geworden.
«Ich halte durch, bleibe irgendwie am Leben. Zwei Wochen sind wir durch die Wüste gefahren. Eine lange Zeit, doch ich habe Glück, andere brauchen für diesen Abschnitt einen ganzen Monat. Kurz vor der libyschen Grenze tauschen wir das Fahrzeug. Es sind noch weitere Pick-ups mit uns unterwegs. Die Überlebenden werden jetzt in einen Container auf einem Truck gezwängt.
Im Container kann man kaum atmen, so eng und heiss ist es. 130 Personen sind wir, alle auf engstem Raum eingesperrt. Viele schluchzen, einige schreien. 24 Stunden dauert diese Tortur, auch hier sterben Menschen vor meinen Augen.
In Libyen angekommen, wechseln wir wieder auf einen Pick-up und fahren nach Tripolis.»
Tripolis ist die eigentliche Hauptstadt Libyens. Doch die international anerkannte Regierung und das Parlament sind nach Tobruk im Osten des Landes geflüchtet. In Tripolis haben im Moment die Islamisten der «Libyschen Morgenröte» das Sagen.
Für Christen, wie es viele der eritreischen Flüchtlinge sind, kann das sehr gefährlich sein. Erst vor fünf Tagen tauchte ein Video im Internet auf, in dem 30 äthiopische Christen hingerichtet werden. Weil sie der «feindlichen Kirche» angehören, so die Erklärung der Täter.
«Endlich habe ich es geschafft, habe die Sahara durchquert und bin bis zum Mittelmeer gekommen. Doch was kommt als Nächstes? Die Ungewissheit ist ständiger Begleiter auf meiner Reise. Ich bin der Willkür skrupelloser Schlepper ausgeliefert, die nur mein Geld wollen. Und das ist mir mittlerweile ausgegangen, 3600 Dollar habe ich bis hierhin bereits ausgegeben, für die Überfahrt nach Europa verlangen die Schlepper noch einmal 2000 Dollar.
In Tripolis werde ich zusammen mit 300 weiteren Flüchtlingen in ein Haus gesperrt. Es ist wie im Gefängnis, bewaffnete Männer bewachen das Haus rund um die Uhr. Wir können das Gebäude nicht ein einziges Mal verlassen. Es sind keine Polizisten, die uns hier gefangen halten. Es sind Libyer, die mit den Flüchtlingen Geschäfte machen. Menschenhändler.
Ich muss 2000 Dollar auftreiben, sonst bin ich für die Schlepper wertlos. Per Telefon erhalte ich die Möglichkeit, mit meinem Vater in Eritrea zu sprechen. Der Ernst der Lage wird ihm sofort klar. Kann er das Geld nicht besorgen, wird sein Sohn mit grosser Wahrscheinlichkeit hingerichtet. Beseitigt. Ja, ein Menschenleben hat in Libyen fast keinen Wert.
Mein Vater überlegt nicht lange, er verkauft sein Haus, treibt so die nötigen Dollars auf und schickt sie nach Libyen. So bleibe ich am Leben. Drei Monate harre ich an diesem schrecklichen Ort aus und werde immer wieder mit Ketten geschlagen. Die Libyer mögen keine Christen. Das lassen sie uns deutlich spüren. Es fehlt uns hier an allem.»
Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière sprach vergangenen Montag von einer Million Flüchtlinge, die in Libyen auf eine Überfahrt nach Europa warten. Manche warten einige Monate, andere Jahre. Viele schaffen es gar nie auf ein Boot.
Im Jahr 2014 sind aus Libyen 170'000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Rund 33'000 davon kamen aus Eritrea.
«Eines Tages, irgendwann im August 2014, ist es soweit, das Boot, welches mich nach Europa bringen soll, steht bereit. Ich darf das Gefängnis endlich verlassen. 500 Menschen werden auf das Schiff gepackt. Es ist in miserablem Zustand und viel zu klein.
Die allermeisten von uns werden eingesperrt in einen Raum unter Deck. Es hat keine Toiletten, kein Wasser, kein Essen und nur ein winziges Fenster. Wir dürfen den Raum nicht verlassen. Willst du die Überfahrt an Deck verbringen und nicht im Schiffsrumpf, musst du noch viel mehr als 2000 Dollar bezahlen. Manche machen das, doch die allermeisten sind zusammen mit mir gefangen in diesem stickigen Raum.
Drei Tage dauert die Überfahrt, ich habe keine Ahnung, was draussen passiert und wo wir sind. Geht das Schiff unter, haben wir keine Chance.
I recently met Syrian who took boat from Turkey to #Italy. He made pics with cell phone. This is how it looks like pic.twitter.com/WkjNMoq5NZ
— Jenan Moussa (@jenanmoussa) 20. April 2015
Ich habe grosse Angst, ich will doch leben!
Doch das Boot hält, wir schaffen es nach Sizilien. In der Nähe von Catania kommen wir an Land. Mit der italienischen Polizei oder den Behörden kommen wir erst gar nicht in Kontakt, die haben kein Interesse an uns und lassen uns einfach laufen.
In Catania löse ich ein Bahnticket nach Mailand, von dort geht es weiter in die Schweiz, wo ich einen Antrag auf Asyl stelle. Seit ich Eritrea verlassen habe, sind 15 Monate vergangen.»
Im Jahr 2014 sind im Schnitt täglich 466 Immigranten per Boot an der italienischen Küste angekommen. Die Renzi-Regierung ist mit diesem Ansturm überfordert und schafft es darum nicht mehr, alle Flüchtlinge zu registrieren.
«Seit sieben Monaten lebe ich nun in der Schweiz. Mittlerweile bin ich 21 Jahre alt. Zusammen mit einem Mann aus Eritrea teile ich in Grüningen ZH ein Zimmer. Fast täglich nehme ich den Zug nach Zürich, um hier Deutschkurse zu besuchen. Hier habe ich neue Freunde gefunden, habe Aziz kennengelernt.
Ich habe einen Ausweis mit Status «N», ich bin Asylsuchender. Ich möchte hier in der Schweiz bleiben, arbeiten und meine Familie in Eritrea unterstützen, welche, um meine Flucht zu finanzieren, ihr ganzes Hab und Gut aufgegeben hat.
Doch mein Ausweis läuft Ende Sommer ab und ich weiss nicht, ob mein Asylantrag gutgeheissen wird. Bekomme ich einen B-Ausweis, ist alles gut. Wird mein Antrag abgelehnt, droht die Ausschaffung.»
Müsste Idris zurück nach Eritrea, ist es praktisch sicher, dass er wieder ins Gefängnis gesteckt wird. Eritreer, welche im Ausland Asyl beantragt haben, werden im Land von Isayas Afewerki als Verräter, als Dissidenten angesehen.
800 Flüchtlinge verloren vergangenes Wochenende bei einem Bootsunglück im Mittelmeer ihr Leben.
Seither werden die Lösungsvorschläge von verschiedenen «Experten» heiss diskutiert: «Das Mittelmeer zur militärischen Sperrzone machen», forderte Roger Köppel bei Günther Jauch, in der EU wird über ein «Schiffe-Versenken» debattiert.
Eine Stimme ging bis anhin aber fast komplett unter: Nämlich jene der Flüchtlinge selber. Die Stimme jener Menschen, welche selber mit dem Boot nach Europa gekommen sind.
«Was muss sich ändern, damit diese Tragödie ein Ende nimmt? Welche Lösung schlägt ihr vor?», frage ich Aziz und Idris, während wir über die Zürcher Hardbrücke schlendern. Inzwischen sind noch zwei weitere Freunde hinzugekommen, sie möchten weiter nach Altstetten, wollen auch am Nachmittag einen Deutschkurs besuchen. Doch diese letzte Frage möchten sie noch beantworten:
«Wir brauchen Demokratie in Eritrea! Und Menschenrechte! Es kann nicht sein, dass ein Diktator über 20 Jahre an der Macht ist und mit seinem Volk macht, was er will. So lange dies so bleibt, werden die Eritreer flüchten und den Sprung über das Mittelmeer wagen. Egal, wie viel Risiko damit verbunden ist.»