Der Fall war aussergewöhnlich. Der 24-jährige Sohn aus Bulgarien sagte gegen seine Familie aus, die ihn in Genf und Lausanne zum Betteln zwang. Im vergangenen Mai verurteilte das Genfer Strafgericht den Vater und den älteren Bruder zu mehreren Jahren Haft wegen Menschenhandels. Die Mutter kam mit einer bedingten Strafe davon. Die Familie gehört zur Minderheit der Roma.
Seit 2010 wurden im Durchschnitt jährlich 17 Personen wegen Menschenhandels verurteilt. Das Phänomen ist aber viel verbreiteter, als es die Strafurteilsstatistik erahnen lässt. Darauf deuten auch die neusten Zahlen der «Plateforme Traite» hin. Sie umfasst vier Fachstellen zur Bekämpfung von Menschenhandel in allen Landesteilen.
Die «Plateforme Traite» identifizierte im vergangenen Jahr 197 neue Opfer von Menschenhandel in der Schweiz. Das sind zwanzig mehr als im Vorjahr und zehn weniger als 2021. Im letzten Jahr stammten die Opfer aus 55 verschiedenen Ländern, am häufigsten vertreten waren Personen aus Ungarn, der Demokratischen Republik Kongo, Kamerun und Somalia. Die «Plateforme Traite» geht davon aus, dass sich im Verborgenen noch weit mehr Menschenhandelsdramen abspielen.
Bei drei Vierteln der neu identifizierten Opfer handelt es sich um Frauen. Noch immer werden am meisten Menschen im Sexgewerbe ausgebeutet. Die «Plateforme Traite» stellt jedoch fest, dass immer mehr Männer ausgenützt werden und sich der Menschenhandel zusehends auch in anderen Arbeitsbereichen manifestiert. Betroffen sind laut Georgiana Ursprung, Koordinatorin der «Plateforme Traite», Branchen mit hohem Lohndruck wie private Pflege, Gastronomie, Kosmetik- und Nagelstudios sowie Baugewerbe. CH Media hat in der Clan-Serie ausführlich über diese Problematik berichtet. Die Zahlen zur Arbeitsausbeutung umfassen auch Personen, die zu Straftaten wie Diebstahl oder Drogenschmuggel genötigt werden, auch der eingangs erwähnte Zwang zum Betteln zählt dazu.
Sehr wenige Opfer melden sich selber direkt bei den Organisationen von «Plateforme Traite». Oft werden die Fälle mithilfe der Polizei, von Spitälern, Frauenhäusern oder bei Arbeitskontrollen aufgedeckt. Die wachsende Zahl von Ausbeutung im Arbeitsbereich führt die «Plateforme Traite» auch auf die Sensibilisierungsarbeit zurück, die sie etwa bei der Polizei und anderen Behörden leisten. Dennoch kritisiert Nina Lanzi von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ) in Zürich, dass Betroffene von Arbeitsausbeutung oft nicht als solche erkannt würden. Es mangle an spezialisierten Schutzorganisationen, an Ressourcen, auch die Behörden müssten noch besser sensibilisiert werden.
Opfer von Menschenhandel machen sich zum Beispiel wegen fehlender Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung selber strafbar. Die «Plateforme Traite» fordert, dass Straftaten, welche die Opfer im Zusammenhang mit der Ausbeutung begangen haben, nicht geahndet werden. (aargauerzeitung.ch)