Um sechs Uhr morgens brechen maskierte Polizisten der Spezialeinheit Luchs die Türe einer kleinen Wohnung im Kanton Zug auf und werfen eine Blendgranate hinein. Sie knallt und blitzt. Wer davon überrascht wird, verliert für einen Moment die Orientierung. Die Interventionseinheit will sich damit einen Zeitvorsprung verschaffen, um den Mann in der Wohnung in Handschellen zu legen, bevor er sich wehren kann.
Denn die Elitepolizisten rechnen mit dem Schlimmsten. Sie stürmen die Wohnung im Auftrag der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Deutsche Ermittler haben den Hinweis erhalten, dass der deutsche Staatsbürger in Zug zum Reichsbürgermilieu gehöre und eine verbotene Schusswaffe besitze.
Zudem verdächtigen sie ihn des «Landfriedensbruchs in einem besonders schweren Fall». Dabei könnte es sich zum Beispiel um eine Beteiligung am versuchten Sturm auf den Reichstag in Berlin durch Reichsbürger und Coronamassnahmengegner im Jahr 2020 handeln.
«Reichsbürger» gelten als Gefahr für die Demokratie, weil sie den bestehenden Staat ablehnen und sich teilweise bewaffnen. Die Szene besteht vor allem aus älteren Männern, die oft mit Verschwörungstheorien argumentieren. Viele glauben, das historische Deutsche Reich existiere weiter und der aktuelle Staat sei eine Firma. Der deutsche Verfassungsschutz geht von über 20'000 Anhängern aus – dazu gehören ehemalige Militärs und Polizisten.
Es ist vor allem ein deutsches Phänomen. Mehrere Hundert Reichsbürger sind aber auch in der Schweiz aktiv. Viele sind Querulanten, die vor allem ein persönliches Problem mit dem Staat haben. Experten warnen allerdings davor, diese einfach als Spinner abzutun. Denn dafür sei die staatsfeindliche Szene zu gefährlich. Bei Polizeieinsätzen in Deutschland haben Reichsbürger um sich geschossen und Polizisten schwer verletzt. Einer ist gestorben.
Die Spezialeinheit Luchs klingelt deshalb nicht wie bei einer Hausdurchsuchung üblich an der Wohnungstüre, sondern verschafft sich mit Gewalt Zutritt. In der Einsatzplanung hat sie sich beim Einwohneramt erkundigt und erfahren, dass der Mann alleine in der Wohnung gemeldet ist. An der gleichen Adresse hat er auch zwei Firmen registriert. Vor dem Haus steht sein Auto auf dem Parkplatz. Die Polizisten gehen deshalb davon aus, dass er zu Hause ist – alleine.
Doch auch seine Ehefrau und seine Töchter im Alter von neun und zwölf Jahren sind da. Sie erleben den Schreck ihres Lebens, als das Einsatzkommando die Wohnung stürmt. Diese ist kleiner als angenommen. Die Blendgranate wäre wohl nicht nötig gewesen.
Die Elitepolizisten packen den Reichsbürger, legen ihm Handschellen an und ziehen ihm eine Augenbinde über. Diese gehört zu ihrem Standardvorgehen. Damit wollen sie verhindern, dass der Festgenommene gezielt auf sie losgeht. In der Wohnung steht ein Feldbett. Darauf setzen sie den Mann.
Andere Polizisten führen derweil Frau und Kinder zum wartenden Rettungsdienst, der sie betreut. Eine Patrouille fährt sie danach zum Hauptgebäude der Zuger Polizei, organisiert ihre Rückreise nach Deutschland und bringt sie mit Bahnbilletten zum Bahnhof.
In der Wohnung stellen die Polizisten Laptops, ein Tablet, Mobiltelefone und Datenträger sicher. Die gesuchte Schusswaffe finden sie nicht. Dafür Akten zum Kauf einer Compound-Armbrust, ein Schiessbuch und zwei Jagdmunitionshalterungen.
Zudem beschlagnahmt die Polizei typische Reichsbürger-Unterlagen: Schriftstücke über «Die Souveränität des Deutschen Reiches», zur «Handlungsempfehlung mit der Firma Polizei» oder das in der Szene beliebte Buch «Geheimsache Reichsbürger». In der Schweiz führt die Buchhändlerin Orell Füssli dieses im Sortiment.
Zeitgleich führen deutsche Beamte an diesem 9. Juni 2022 eine Hausdurchsuchung in Stuttgart durch. Bei der Aktion in der Schweiz sind zwei Kommissare des Landeskriminalamts Baden-Württemberg dabei. Sie hören auch zu, als Zuger Ermittler dem Mann Fragen stellen, die ihnen die Deutschen vorher formuliert haben. Danach kommt der Mann frei.
Die deutschen Beamten dürfen das Einvernahmeprotokoll, die Akten und Gegenstände jedoch nicht einfach mitnehmen. Sie müssen dafür ein internationales Rechtshilfegesuch stellen. Der Reichsbürger aus Zug wehrt sich dagegen ohne Anwalt. Ihm gelingt eine Verzögerung.
Die deutschen Beamten müssen genauer beschreiben, worin sie den Verstoss gegen das Waffengesetz vermuten. Als sie die Information nachliefern – er soll eine Waffe ohne Waffenschein besitzen – bestätigt das Bundesstrafgericht die Herausgabe der Beweismittel nun allerdings.
Der Reichsbürger findet die Hausdurchsuchung unverhältnismässig. Er klagt: «Meine Töchter mussten miterleben, wie ihr Vater von maskierten Polizisten wie ein Schwerverbrecher geknebelt worden ist.» Seine Kinder seien traumatisiert und er sei arbeitslos geworden. Dabei sei er stets ein gesetzestreuer Bürger gewesen, und es lägen keine Beweise gegen ihn vor.
Das Gericht stuft den Einsatz mit Blendgranate und Augenbinde jedoch als verhältnismässig ein und stützt die Argumentation der Zuger Polizei. Die Beamten hätten von einer potenziellen Gewaltbereitschaft ausgehen müssen.
Dirk Baier forscht zu Extremismus an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und hat an einer Studie über Kinder von Inhaftierten mitgearbeitet. Fazit: Bei der Polizei sei mehr Sensibilität für die Situation von Kindern zu wünschen. Bei Durchsuchungen und Verhaftungen denke die Einsatzleitung nicht immer an die Wirkung auf anwesende Kinder.
Zum Fall in Zug sagt er, die Durchsuchung sei nicht optimal gelaufen. Hätte die Polizei gewusst, dass Kinder in der Wohnung sein werden, hätte sie anders vorgehen müssen. Und dennoch macht er der Einsatzleitung keinen Vorwurf. Sie hätte zwar im Vorfeld auch Anwohner befragen oder die Wohnung observieren lassen können, doch dann wäre der Mann vielleicht gewarnt gewesen.
Hinzu kommt: «Erstens bestand aufgrund der bekannten Gewaltbereitschaft von Reichsbürgern eine gewisse Dringlichkeit. Zweitens musste die Polizei aufgrund von Erfahrungen in Deutschland mit Gegenwehr rechnen.» So sei eine unglückliche Situation entstanden.
Aus dem Fall ist gemäss Baier folgende Lektion zu lernen: «Reichsbürger und Staatsverweigerer sind nicht per se sozial isolierte Menschen. Deshalb sollte die Polizei bei Aktionen nicht nur deren mögliche Gewaltbereitschaft, sondern auch die Anwesenheit Dritter mitberücksichtigen.» (bzbasel.ch)
Daran ist dann mMn nicht die Polizei schuld, sondern der Extremist.
Schlimmer noch: Die Töchter müssen miterleben, wie ihr Vater in eine dubios-gefährliche Parallelwelt von bewaffneten Verschwörungstheoretikern, Staatsfeinden und Rechtsextremen abdriftet. Darüber sollte er sich Gedanken machen.