Es ist kurz vor Ostern, als ein Vater mit seiner eineinhalbjährigen Tochter ein Flugzeug in Brasilen besteigt und in Richtung Schweiz aufbricht. Aus seiner Perspektive ist er mit ihr aus Notwehr in den Kanton Zürich geflohen. Dem Bundesgericht wird der schweizerisch-brasilianische Doppelbürger später sagen, er habe das Kind vor seiner verwahrlosten und sich prostituierenden Mutter in Sicherheit bringen müssen.
Die Liste der Vorwürfe ist lang. Die Mutter habe Alkohol konsumiert, obwohl sie das Kind noch gestillt habe. Sie habe das Baby mehrmals zu Boden fallen lassen, Kopfverletzungen hätten Spitalaufenthalte erfordert, eine Brandwunde stamme wohl von einer Zigarette. Die Tochter leide sodann an Eisenmangel, permanentem Durchfall und an Karies. Zähne putzen? Fehlanzeige. Wegen der verfehlten Ernährung (Chips und Süssgetränke) sei das Kind stark übergewichtig und habe mit 12 Monaten 19 Kilogramm gewogen. Normal ist für einjährige Mädchen etwa die Hälfte dieses Gewichts.
Das ist nicht alles. Der Vater moniert, oft hätten zwei Tanten das gemeinsame Kind gehütet, wobei die eine drogensüchtig und die andere Drogenhändlerin sei. Der Doppelbürger führt einen Videoanruf seiner Ex-Partnerin vom vergangenen März ins Feld. Darin habe sie voller Angst mitgeteilt, ihre ganze Familie werde durch ein Drogensyndikat mit dem Tod bedroht. Als gerichtlicher Beweis taugte dieses Dokument nicht, weil der Vater das Gespräch ohne Zustimmung der Kindsmutter registrierte.
Die Eltern trennten sich, noch bevor die Tochter ersten Geburtstag feierte. Nach der Trennung sprach ein brasilianisches Gericht den Eltern das gemeinsame Sorgerecht zu. Unter der Woche stand die Tochter unter Obhut der Mutter, an den Wochenenden kümmerte sich der Vater um sie. Nach seiner abrupten Flucht in die Schweiz entzog ihm das lokale Gericht das Sorgerecht.
Es gibt immer wieder Väter und Mütter, die ihre Kinder vom Ausland in die Schweiz entführen. Im vergangenen Jahr zählte das Bundesamt für Justiz 46 Anträge auf Rückführung in das Land, in dem das Kind vorher lebte. Das waren so viele wie nie in den letzten zehn Jahren. Umgekehrt beantragte 2022 52 Mal ein Elternteil, ein entführtes Kind in die Schweiz zurückzubringen.
In solchen Fällen greift das Haager Abkommen über die Kindesentführung, das die juristischen Modalitäten bei der Rückführung regelt. Die Schweiz sowie rund 100 meist westliche und südamerikanische Länder haben den Vertrag unterschrieben. Wird ein Kind in einen Nichtvertragsstaat verschleppt, ist es für den zurückgebliebenen Elternteil oft unmöglich, zu seinem Recht zu kommen.
Über den Flug in die Schweiz informierte der Vater seine Ex schliesslich selber. Diese wandte sich darauf ans Bundesamt für Justiz und beantragte die Rückführung. Eine einvernehmliche Lösung mit dem Vater scheiterte. Deshalb landete der Fall beim Zürcher Obergericht. Für die Verhandlung vom 6. Juli flog die Mutter in die Schweiz. Es lohnte sich: Das Gericht hiess die Rückführung gut. Noch im Gerichtssaal übergaben ihr Beamte die Tochter. Schon am nächsten Tag flogen die beiden zurück nach Brasilien.
Nur in Ausnahmefällen ordnen Gerichte keine Rückführung von Kindern an. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn Kindern schwere seelische und körperliche Schäden drohen würden. Das Zürcher Obergericht deutete die Fotos, die der Vater beilegte, zwar als Anzeichen für Übergewicht. Doch die Gesundheit der Tochter sei deswegen nicht unmittelbar gefährdet.
Dieses Problem könne genauso wie Karies, Durchfall oder Eisenmangel in Brasilien angegangen werden. Auch die behaupteten Kopfverletzungen liessen nicht auf eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung schliessen. Laut dem Gericht legte die Mutter zudem glaubwürdig dar, dass sie und ihre Schwestern nicht in Drogengeschäfte verwickelt seien.
Das Bundesgericht bestätigte das Urteil des Obergerichts. Der Begriff der schwerwiegenden Gefahr sei restriktiv auszulegen. Sie sei dann gegeben, wenn einem Kind die Rückführung in ein Kriegs- oder Seuchengebiet oder ihm Misshandlung drohe, ohne dass die Behörden dagegen einschritten. Mit anderen Worten: Vom Vater monierte erzieherische Inkompetenz, Überforderung und Anzeichen von Verwahrlosung rechtfertigen keine Entführung.
Kommt hinzu: Klare Beweise für die Vorwürfe präsentierte der Vater keine. Speziell ist auch, dass der Vater bei brasilianischen Behörden nie wegen des mutmasslichen Drogenmilieus oder der angeblich bedenklichen Erziehung der Kindsmutter intervenierte: Die implizite Kritik: Dem Vater kamen die Vorwürfe erst in den Sinn, als es darum ging, das rechtswidrige Verbringen seiner Tochter in die Schweiz zu legitimieren.
Sollte die Geschichte wie vom Vater geschildert stimmen, kann ich gut nachvollziehen die Vorwürfe erst in der Schweiz zu äussern.