Den kaltblütigen und brutalen Mord am siebenjährigen Ilias im vergangenen März hatte die Täterin offenbar seit Langem geplant. Das zeigt die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Den Fall übernommen hat der Erste Staatsanwalt Alberto Fabbri. Der Prozess findet anfangs April statt – rund ein Jahr nach der Tat, welche die ganze Schweiz erschütterte. Die Anklageschrift, die der «bz» vorliegt, liest sich über weite Strecken wie das Protokoll eines angekündigten Mordes.
Die heute 76-jährige Täterin Alice F., welche seit dem Tötungsdelikt im Untersuchungsgefängnis Waaghof sitzt, ist seit über vierzig Jahren den Behörden als notorische Querulantin bekannt. Geboren wurde sie im Kanton Luzern. Als Erwachsene arbeitete sie bei der Post und später als KV-Angestellte in Basel. Mitte der 1980er-Jahre wurde F. arbeitslos, einen Job fand sie offenbar nie mehr. Dies dürfte auch mit ihrer psychischen Verfassung zusammen hängen. «Die Beschuldigte leidet an einer chronifizierten, schwerwiegend wahnhaften Störung, einem Querulantenwahn, welcher sich seit 1977 progredient entwickelt hat», schreibt die Staatsanwaltschaft.
Auslöser der Störung war ein weitreichender ziviler Rechtsstreit ihres 1999 verstorbenen Partners. Der Konflikt entwickelte sich zu einem Kampf gegen die Behörden. Die beiden sprachen wiederholt von einer «Justizkorruptionsaffäre» und versuchten auch politischen Druck auszuüben. Einschneidend war dabei vor allem der Umstand, dass 1992 die Wohnung von F. und ihrem Partner in Allschwil zwangsgeräumt wurde. Die beiden wurden vorübergehend obdachlos. Ihr Eigentum wurde eingelagert und drei Jahre später liquidiert.
Über 42 Jahre lang habe die Beschuldigte querulatorische Briefe an verschiedene Behörden geschrieben, so die Staatsanwaltschaft. Und weiter: «Die Schreiben nahmen über die Jahre an Frequenz und Intensität zu.» Als die Ermittler nach der Tat den Lagerraum durchsuchten, in dem die Frau ihre Habseligkeiten aufbewahrt hatte, stiessen sie auf über zehn gefüllte Bananenkisten mit Briefen.
Die Frau war schnell einschlägig bekannt. Laut der Anklage seien die Briefe seit 1983 von den Behörden grossmehrheitlich nicht mehr beantwortet worden. Auch die zuständige Petitionskommission des Baselbieter Landrats beschloss bereits Ende der 1980er Jahre, auf die Schreiben des Paares nicht mehr einzutreten.
Aufgrund ihrer Schreiben wurden aber die Behörden mehrfach aktiv. So wurde die Frau vor der Tat drei Mal psychiatrisch begutachtet, zuletzt 2016. Zwischenzeitlich hatte sie einen Beistand und laut der Anklageschrift liefen auch mehrere Verfahren wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.
Unverhohlene Drohungen zu einer «Gewalttat»2003 und 2005 wurde jeweils für einige Wochen ein fürsorgerischer Freiheitsentzug angeordnet: F. wurde in die Psychiatrie eingeliefert, gegen ihren Willen. Therapeutische Massnahmen, unterstützt mit einer medikamentösen Behandlung, sei aber nicht indiziert gewesen, schreibt die Staatsanwaltschaft, «zumal sich auch aufgrund der fehlenden Krankheitseinsicht und Verweigerung der Beschuldigten keine Behandlungsmöglichkeiten boten.»
Ab 2002 war in den Briefen der Beschuldigten häufig die Rede von einem Mord als «Rechtsmittel». Die Behörden würden mit ihrem Verhalten ein Tötungsdelikt billigend in Kauf nehmen, drohte F. zunehmend unverhohlen. Vor vier Jahren steigerten sich die Drohungen nochmals. Falls ihre Forderungen nicht erfüllt würden, sei jederzeit eine «Gewalttat» zu erwarten, schrieb die damals 72-Jährige.
Einige Monate vor der Tat startete sie eine neue Serie von Briefen an das Bundesgericht, in denen sie ankündigte, dass von nun an eine «Gewalttat unumgänglich» sei, zumal ihr eine «gewaltfreie Lösung» verweigert würde. Die Abstände zwischen den Briefen wurden immer kürzer und die Drohungen zunehmend eindringlicher. F. setzte dem Bundesgericht jeweils Fristen, bis wann dieses die «Justizkorruptionsaffäre» aufklären solle. In vielen Schreiben kündigte F. an, dass sie eine Gewalttat als «Notwehrhandlung» ansehen würde.
Ihr letztes Schreiben ans Bundesgericht datiert vom 15. März 2019 – weniger als eine Woche vor der Tat. Dabei hielt sie fest, dass das Bundesgericht wolle, «dass die abverlangte Gewalttat eingehalten und bewiesen werde». In den nächsten Tagen war sie nach eigenen Angaben mehrfach im Gotthelf-Quartier unterwegs und spielte ihre Tötungsideen im Kopf durch.
Zwei Tage vor der Tat verfasste sie auf ihrem Mobiltelefon eine SMS, in dem sie eine Tötung gestand. Die nicht versendete Nachricht konnten die Ermittler später rekonstruieren. Am nächsten Morgen verfasste F. einen neuen Entwurf, in dem sie schreibt: «ich habe ein kind getötet. damit mein justizfall aufgeklärt wird.» Wie sehr die Frau zu diesem Zeitpunkt unter Realitätsverlust litt, zeigt der Zusatz: «stelle mich der verantwortung sofern ich nicht umgebracht werde». Am Nachmittag war sie wieder in der Nähe des Gotthelf-Schulhauses unterwegs. Dabei trug sie bereits die spätere Tatwaffe, ein handelsübliches Küchenmesser, auf sich. Im Laufe des Tages formulierte sie ihr SMS-Geständnis noch mehrfach neu.
Am 21. März 2019 über die Mittagszeit wartete F. wieder in der Nähe des Gotthelf-Schulhauses, entschlossen ihre von langer Hand geplante und mehrfach angekündigte Tat umzusetzen. Sie wusste, dass um diese Zeit viele Kinder unterwegs sein würden und niemand einer älteren Frau Beachtung schenken würde. 200 Meter vom Schulhaus entfernt traf sie zufällig auf den Primarschüler Ilias, der sich als einer der letzten seiner Klasse auf dem Heimweg befand. Von hinten näherte sich F. dem Jungen – «heimtückisch und in direkter Tötungsabsicht», wie die Staatsanwaltschaft schreibt. Gezielt stach sie dem wehrlosen Kind zwei Mal mit dem Messer in den Hals. Bevor sie sich vom Tatort entfernte, beugte sie sich noch über ihn und vergewisserte sich, dass sie ihn tödlich verletzte hatte. Als die Rettungskräfte kurz nach der Tat vor Ort eintrafen, war der Bub bereits klinisch tot.
Nach der Tat verschickte F. das vorbereitete SMS an mehrere Personen. Danach rief sie bei «Telebasel» und der Zeitschrift «Beobachter» an und gestand den Mord. Um 13.30 Uhr – zwei Stunden nach der Tat – stellte sie sich der Staatsanwaltschaft und händigte den Ermittlern auch die Tatwaffe aus. Seither deckt F. vom Untersuchungsgefängnis aus die Gerichte mit Eingaben und Beschwerden ein.
Die Staatsanwaltschaft klagt F. wegen Mordes an. Angesichts ihrer psychischen Verfassung sei sie aber als schuldunfähig anzusehen. Gemäss Antrag soll F. verwahrt werden. Angesichts ihres Alters und ihres psychischen Zustands würde dies wohl bedeuten, dass sie den Rest ihres Lebens in einer geschlossenen Anstalt verbringen würde. (mim/bzbasel.ch)
Ich arbeite selbst bei der Justizbehörde und auch wir kennen einige solcher Querulanten. Diejenigen, welche ihre Fälle bearbeiten, werden beinahe täglich bedroht. Einer schickte meiner Kollegin jeden Tag nebst Beschwerden auch Waffenprospekte mit handschriftlichen Notizen. Man weiss nie, ob solche Leute hochgehen aber rechtlich ist die Verfolgung ein Leerlauf und wegsperren geht erst, wenn etwas schlimmes passiert ist.