Das Resultat fiel deutlicher aus als erwartet: 40 zu 26 Stimmen für die Neuenburger FDP-Frau. Rocco Maglio, Sprecher des Bundesverwaltungsgerichts, formuliert es auf Anfrage so: «Die Versammelte Richterschaft schlägt der Vereinigten Bundesversammlung Richterin Claudia Cotting-Schalch als Vizepräsidentin für den Rest der Amtsperiode 2023/24 vor.» Sie soll Stephan Breitenmoser (Mitte) ersetzen, der Ende Jahr aufhört. Die Wahl muss aber im kommenden Dezember noch von der Bundesversammlung bestätigt werden.
Das Nachsehen hatte der Baselbieter SVP-Mann David Weiss. Er hatte sich ebenfalls für das Vizepräsidium am Gericht beworben, das derzeit 73 Richterinnen und Richter zählt.
Bei der Wahl ging es um viel. Der Sieger oder die Siegerin kann mit grosser Wahrscheinlichkeit Ende 2024 die Nachfolge des Präsidenten Vito Valenti (FDP) antreten.
Das Präsidium ist umso wichtiger, als am grössten Gericht des Bundes ein Machtkampf im Gang ist. Es laufen seit Jahren Auseinandersetzungen zwischen einigen Richterinnen und Richtern, die sich in Intrigen und Indiskretionen, Amtsenthebungsverfahren und Strafanzeigen niederschlagen.
Der Konflikt ist längst in der fünfköpfigen Gerichtsleitung, der Verwaltungskommission, angekommen. Ihr gehören neben Präsident Valenti und Vize Breitenmoser auch drei Mitglieder an, die von der Richterschaft gewählt werden. Das sind derzeit die SP-Leute Keita Mutombo und Nina Spälti sowie Roswitha Petry, Vertreterin der Mitte-Partei. Die SVP ist also in der Gerichtsleitung derzeit nicht vertreten.
Weiss, der auch schon mal Bundesrat werden wollte, war laut Beobachtern angetreten, am Gericht «aufzuräumen». Im Wesentlichen ging es darum, die als «alte Garde» bezeichnete Gruppe von Leuten definitiv zu entmachten, die bis vor kurzem die Gerichtsleitung prägte. Zu dieser Gruppe gehören derzeit noch Präsident Valenti und SP-Frau Spälti. Vize Breitenmoser, SP-Mann Mutombo und Mitte-Frau Petry werden gemeinhin dem Lager zugerechnet, das Weiss unterstützte und «aufräumen» wollte.
Die Wahl von Cotting ist für das Team der «Aufräumer» allerdings ein herber Rückschlag. Seit Anfang Jahr haben sie mit Breitenmoser, Mutombo und Petry in der Gerichtsleitung gemäss eigener Einschätzung gefühlt eine Mehrheit. Diese sollte genutzt werden, hiess es, um einige angebliche «Fehlentwicklungen» zu korrigieren. Mit Claudia Cotting als Vize dürfte diese Mehrheit wieder kippen.
Der «alten Garde» wird von den «Aufräumern» unter anderem «Ungleichbehandlung» von Richterinnen und Richtern vorgeworfen. Immer wieder werden diesbezüglich drei Fälle genannt:
– Fall 1: Gegen einen SVP-Asylrichter war auf Drängen der früheren Gerichtsleitung um Marianne Ryter und Empfehlung des Bundesgerichts ein Amtsenthebungsverfahren erwogen worden. Er habe einen Spruchkörper abgeändert, um ein Urteil in einem Asylverfahren zu beeinflussen. Es war viel Rauch um wenig: Die Gerichtskommission des Bundesparlaments leitete kein Verfahren ein, «weil die Voraussetzungen dazu nicht erfüllt seien», wie sie im Mai mitteilte. Aber die Sache hallt nach. Ungeklärt ist etwa die Frage, wer für die hohen Parteikosten des Richters aufkommt.
– Fall 2: Ein FDP-Richter, der intern «Richter 007» genannt wird, weil er für Abhör- und Überwachungsbewilligungen des Geheimdienstes zuständig ist, sei geschont worden. Fast alle seiner Kammerkolleginnen und -kollegen hätten vor zwei Jahren «wegen Eigenmächtigkeiten und Amtspflichtverletzungen» seine Absetzung gefordert, machte die «NZZ am Sonntag» Mitte August publik. Der Zeitpunkt der Publikation einen Monat vor der Kampfwahl ums Vizepräsidium dürfte kein Zufall sein; sie passte jedenfalls ins Konzept der «Aufräumer». In dieser Sache hat das Gericht Strafanzeige wegen Amtsgeheimnisverletzung eingereicht. Die Bundesanwaltschaft bestätigt gegenüber CH Media, dass sie «in diesem Zusammenhang ein Strafverfahren gegen unbekannt eröffnet wegen des Verdachts der Verletzung des Amtsgeheimnisses und die notwendigen Untersuchungshandlungen veranlasst» habe.
– Fall 3: Es geht um eine Richterin der Grünen, der kürzlich ein Fehler bei der Berechnung einer Verfahrensfrist unterlief. Sie bemerkte den Fehler gleichentags und soll ihn in der Folge auf nicht ordentliche Weise korrigiert haben. Was bestritten wird. Jedenfalls hat sie seither eine Anzeige wegen Verdachts auf Amtspflichtverletzung, Amtsmissbrauch und mehr am Hals, welche von anonym auftretenden Mitarbeitern des Gerichts eingereicht wurde. Die Bundesanwaltschaft bestätigt gegenüber CH Media, dass eine Anzeige nach Artikel 22a des Bundespersonalgesetzes eingegangen sei. Dieser Artikel besagt, dass zur Anzeige verpflichtet ist, wer «Verbrechen oder Vergehen» feststellt, die von Amtes wegen verfolgt werden müssen. Diese Richterin war in den Konflikt um den SVP-Richter involviert. Sie werde von der Gerichtsleitung geschont, meinen einige Kritiker.
Strittig ist, wie es zum vergifteten Klima am Gericht kam. Die einen sagen, die frühere Gerichtsleitung habe Machtpolitik um Einfluss und Sitze am Bundesgericht betrieben. Fixiert ist der Zorn einiger auf SP-Bundesrichterin Marianne Ryter, die 2015 bis 2021 im Präsidium des Bundesverwaltungsgerichts sass. Andere sehen es umgekehrt, sehen als Auslöser die SVP, die das Klima vergifte, indem sie Richter unter Druck setze, auf Parteilinie zu urteilen statt unabhängig, unparteilich und unvoreingenommen. Das habe zu einer Blockbildung geführt und zu gegenseitigem Misstrauen.
Verschärft hat sich die Lage laut allgemeiner Einschätzung mit und seit der Corona-Pandemie. Weil das Zwischenmenschliche seither zu kurz komme am Gericht.
Die Führungsprobleme an den Gerichten hängen mit Sicherheit auch damit zusammen, dass es heute keine Sanktionsmöglichkeiten für Richter gibt, die beispielsweise zu wenig oder zu wenig gut arbeiten oder Unruhe stiften am Gericht.
So stellte das Bundesgericht soeben in einem vom Parlament bestellten Bericht fest: Ohne sein Einverständnis könne ein Richter heute «weder eine neue Zuteilung erhalten noch auf einen anderen Posten versetzt werden».
Ein «Problemrichter» kann also gegen seinen Willen nicht einmal in eine andere Abteilung versetzt werden: denn die «Unversetzbarkeit» sei, so das Bundesgericht, eines der Schlüsselelemente der richterlichen Unabhängigkeit. Was umgekehrt heisst: Einmal vom Parlament als Richter gewählt, kann sich jemand fast jede Extravaganz herausnehmen.
Darum arbeitet die Politik an der Einführung eines Richterdisziplinarrechts. Richterinnen und Richter sollen künftig sanktioniert werden können, wenn sie gegen Amts- oder Verhaltenspflichten verstossen. Heute gibt es kein solches Disziplinarrecht. Es gibt als Sanktion nur die Nichtwiederwahl oder Amtsenthebung, und diese Hürde ist sehr hoch. Die «richterliche Unabhängigkeit» steht über allem. Der Arbeitsmoral ist diese nicht in allen Fällen förderlich.
Als mögliche Disziplinarmassnahmen für Verstösse gegen Amtspflichten oder Verhaltenspflichten listet das Bundesgericht auf: Verwarnung, Verweis, Busse, Lohnkürzung, Versetzung im Amt, Streichung von Privilegien wie etwa dem Recht auf Heimarbeit, vorübergehende Einstellung im Dienst sowie Freistellung. Offen ist noch, welche Instanz diese Strafen verhängen könnte.
Die neue Leitung des Gerichts wird massgeblich mitprägen können, wie sich das Bundesverwaltungsgericht in Fragen wie dem Disziplinarstrafrecht positioniert. Die Vertreter des rechten politischen Lagers gelten mit Hinweis auf die richterliche Unabhängigkeit tendenziell als Gegner dieser Strafbarkeit. Dieses Strafrecht spielt im aktuellen Konflikt in St. Gallen jedenfalls auch eine Rolle.
Es gilt auch für Richterinnen und Richter die Unschuldsvermutung. (aargauerzeitung.ch)
Klanggon
El_Chorche
Das sind nicht die Richter, sondern die Politiker, die sie wählen.
maruhu