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Kondom heimlich abgestreift: Freispruch vom Vorwurf der Schändung

Kondom heimlich abgestreift: Freispruch vom Vorwurf der Schändung

09.06.2022, 12:0009.06.2022, 12:14
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Das Bundesgericht hat anhand von zwei Fällen aus den Kantonen Zürich und Basel-Landschaft entschieden, dass das heimliche und vereinbarungswidrige Abstreifen eines Kondoms während des Geschlechtsverkehrs nicht unter den Straftatbestand der Schändung fällt. Andernfalls würde das heutige Recht in unzulässig ausgedehnter Weise interpretiert.

In beiden Fällen waren die Staatsanwaltschaften gegen die vorinstanzlichen Freisprüche aus dem Jahr 2019 ans Bundesgericht gelangt. Die Basellandschaftliche Strafverfolgungsbehörde argumentierte, das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung schütze die Freiheit einer Person darüber zu entscheiden, ob, wann, wo, mit wem und auf welche Weise sie sich an sexuellen Handlungen beteiligen möchte.

Das heimliche Abstreifen eines Kondoms - Stealthing genannt - verletzte dieses Recht. Stealthing sei als Verletzung der persönlichen Würde zu verstehen. Zudem unterscheide sich die Intensität des Sexualkontakts beim ungeschützten Geschlechtsverkehrs wesentlich von derjenigen beim geschützten Kontakt, führte die Staatsanwaltschaft aus. Dies geht aus dem am Donnerstag veröffentlichten Urteil des Bundesgerichts hervor.

Die Staatsanwaltschaft ist entgegen der kantonalen Vorinstanz der Ansicht, man könne in Stealthing-Fällen nicht von einer Einwilligung in den Geschlechtsverkehr ausgehen, wenn zuvor vereinbart wurde, ein Kondom zu benützen. Es gebe keine grundsätzliche Einwilligung für alle infrage kommenden sexuellen Handlungen. Wer nur einer Penetration mit Kondom zustimme, habe nie in eine solche ohne eingewilligt. Es liege also nicht eine bedingte Einwilligung vor, sondern eben gar keine.

Schutzbereich tangiert

Das Bundesgericht hält in seinen Ausführungen fest, Stealthing beeinträchtige die individuelle sexuelle Autonomie und Integrität. Für eine betroffene Person könne die Ablehnung von ungeschütztem Geschlechtsverkehr eine wesentliche Bedingung für den Sexualkontakt sein. Werde das Kondom heimlich abgestreift, habe die getäuschte Person keine Möglichkeit mehr, den Kontakt so zu gestalten, wie sie es wolle.

Mit dem Abstreifen ende der bisher einvernehmliche Sex, und es beginne eine neue sexuelle Handlung im Sinne des Straftatbestandes der Schändung. Jedoch fehlt laut Bundesgericht das bei der Schändung laut Gesetz erforderliche Tatbestandsmerkmal der Widerstandsunfähigkeit des Opfers. Dabei kann es sich um eine dauerhafte Eigenschaft einer Person handeln oder lediglich um eine temporäre Beeinträchtigung wie beispielsweise ein Rausch.

Diese fehlende Abwehrfähigkeit muss gemäss den Lausanner Richtern unabhängig von den konkreten Umständen des Sexualkontakts bestehen. Durch die Täuschung werde der betroffenen Person zwar die Möglichkeit genommen, zu reagieren. Die Fähigkeit zur Abwehr bleibe jedoch vorhanden.

In beiden Fällen müssen die kantonalen Gerichte jedoch noch prüfen, ob der Straftatbestand der sexuellen Belästigung erfüllt ist. Nicht zu beurteilen hatte das Bundesgericht vorliegend, die Verbreitung menschlicher Krankheiten oder allenfalls eine versuchte Körperverletzung. Diesen beiden Straftatbestände könnten bei Stealthing unter Umständen zum Zug kommen.

Laufende Gesetzesänderung

In den vorliegenden Urteilen schreibt das Bundesgericht, dass auch die aktuelle Revision des Sexualstrafrechts dagegen spreche, Stealthing unter geltendem Recht als Schändung zu beurteilen. Täte es dies, würde es gemäss seinen Erwägungen eine vom Gesetzgeber formulierte Bestimmung nicht nur auslegen, sondern den derzeit geltenden Umfang des strafrechtlichen Schutzes ausweiten.

Laut dem Vorschlag der Kommission für Rechtsfragen des Ständerates sollen zukünftig Stealthing und überraschend vorgenommene sexuelle Handlungen unter die neuen Grundtatbestände des sexuellen Übergriffs beziehungsweise der Vergewaltigung fallen.

Die Beachtung der von der Schweiz unterzeichneten Istanbul-Konvention führt laut Bundesgericht ebenfalls nicht zu einem anderen Ergebnis. Die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt könne die Auslegung von geltendem Recht zwar beeinflussen. Dies dürfe aber nicht so weit gehen, dass Lücken bei der Strafbarkeit geschlossen würden. (Urteil 6B_34/2020 und 6B_265/2020 vom 11.5.2022) (aeg/sda)

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86 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Laggoss
09.06.2022 13:11registriert Januar 2021
Juristisch gesehen ist der Entscheid aufgrund von Art. 1 StGB richtig. Indessen ist zu hoffen, dass diese Lücke nun bald geschlossen und das verwerfliche Stealthing unter Strafe gestellt wird.
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winglet55
09.06.2022 13:54registriert März 2016
Was für ein krankes Hirn, zieht während einem sexuellen Kontakt das Kondom aus und gefährdet sich damit selber. Ich werde solches Vorgehen nie verstehen!
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Kermel
09.06.2022 15:37registriert September 2018
Ob das nun rechtlich Schändung ist oder nicht ist halt ne Frage für Rechtsexperten. So oder so ist dieses Stealthing (wieder was gelernt, danke) hinterhältig, erbärmlich und eine Form sexuellem Miisbrauchs, und sollte unbedingt unter Strafe stehen. Was für feige, armselige, niederträchtige Würstchen das sein müssen.
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