Levin hat versucht, Spaghetti zu kochen. Weit ist er nicht gekommen, dafür sieht die Küche nun aus wie nach einer Explosion. Als seine Mutter die Sauerei entdeckt, setzt sie zu einer Schimpftirade an, und als Levin sich weigert, sofort aufzuräumen, reisst sie ihn grob an den Haaren, stösst ihn weg.
Psychisch und physisch verletzende Bestrafungen als Erziehungsmittel sind in vielen Schweizer Familien Alltagsrealität. Die Stiftung Kinderschutz Schweiz lanciert darum eine Sensibilisierungskampagne. Eltern sollen Ideen mitgegeben werden, wie sie in überfordernden Situationen reagieren könnten. «Zähl auf zehn, Mami», «Schau dich im Spiegel an, Papi», «Iss ein Stück Schokolade», schlagen die Kinder den Eltern in kurzen Videos vor. Markus Wopmann, Chefarzt der Kinderklinik am Kantonsspital Baden und seit 30 Jahren im Kinderschutz tätig, weiss wie sehr körperliche und psychische Gewalt Kindern zusetzt. Von der Kampagne ist er trotzdem nicht ganz überzeugt.
Herr Wopmann, die Studie der Universität Freiburg liefert erschreckende Zahlen. Rund die Hälfte der Eltern hat schon einmal Gewalt gegen die eigenen Kinder ausgeübt. Wie erklären Sie sich diese Zahlen?
Markus Wopmann: Die Gewalt als Erziehungsmodell ist selten, aber die Überforderung ist bei vielen Eltern ein Problem. Ein Streit kann sich hochschaukeln. Das Kind gibt Widerworte, und die Mutter verliert die Nerven. Die Ohrfeige ist oftmals Teil des Erziehungsrepertoires, als letzte Massnahme, nachdem mehrere Ermahnungen ausgesprochen wurden.
Um Ohrfeigen geht es in Ihrem Alltag aber selten. Welche Fälle landen bei Ihnen?
Ich bin neben meiner Tätigkeit als Kinderarzt seit rund dreissig Jahren im Kinderschutz aktiv. Pro Jahr behandeln wir in Baden 60 bis 70 Fälle. Schwere körperliche Misshandlung ist sehr selten geworden. Was es heute häufig gibt, sind Kinder, die psychisch sehr belastet sind. Dabei geht es um schwierige Familienverhältnisse, in denen die Kinder nicht misshandelt werden, aber viele Streitigkeiten und Gewaltausbrüche der Eltern miterleben müssen.
Das heisst, Eltern wenden häufiger psychische statt physischer Gewalt an?
Ja, obwohl eine Eingrenzung schwierig ist. Im Graubereich ist der Klaps auf den Po. Provokativ könnte man sagen, das ist keine Gewalt. Psychische Gewalt in der Erziehung verläuft auf einem Spektrum. Dazu gehört die Abwertung des Kindes, es despektierlich behandeln und schlechtmachen, es verbal bedrohen. Viele Eltern beabsichtigen, ihrem Kind mit Worten wehzutun, drohen etwa, das Kind wegzugeben.
Damit kann man ein Kind genauso verletzen wie mit Schlägen.
Das ist so. Wenn man das Kind ignoriert oder herabsetzt, über längere Zeit, dann ist das sehr grob und verletzend. Kleine Kinder können damit nicht umgehen und verstehen nicht, weshalb es passiert.
Kinderschutz Schweiz setzt auf die Selbstwirksamkeit der Kinder. Sie sollen ihren Eltern Tipps geben, wie sie sich beruhigen können. Was halten Sie von dieser Idee?
Ich glaube, das ist schwierig umzusetzen. Ein Streit ist für beide Parteien eine schwierige Situation, und solche gut gemeinten Ratschläge wie «Papi, trink ein Glas Wasser» können Eltern in den falschen Hals geraten. Bei einem Streit geht alles sehr schnell, es ist auch fraglich, ob Kinder da reagieren können. Das ist sehr anspruchsvoll.
Wie reagieren Kinder, die in der Erziehung Gewalt erleben?
Pauschal sind es drei Kategorien. Es gibt Kinder, die zurückschlagen, beissen, kratzen. Andere gehen Konfliktsituationen oder ihren Eltern aus dem Weg und ziehen sich zurück. Manche Kinder leugnen auch, was ihnen passiert ist.
Welche Tipps geben Sie Eltern, die fürchten, die Beherrschung zu verlieren?
Der Tipp ist eigentlich banal, aber effektiv: Man sollte sich aus einer Konfliktsituation entfernen. Eine räumliche Trennung kann schon viel bewirken: Eltern wie auch Kinder haben Zeit, sich zu beruhigen und sich zu sammeln.
Gibt es aus Ihrer Sicht Fälle, wo Körperstrafen in der Erziehung berechtigt sind?
Es gibt keine Berechtigung für Körperstrafen, aus zwei Gründen. Einerseits sind sie gesetzlich verboten. Andererseits nutzt sich der Effekt einer Strafe sehr schnell ab. Körperstrafen sind nicht nur aus moralischen Gründen falsch, sie «lohnen» sich schlicht und einfach nicht.
Was soll man tun, wenn man den Verdacht hat, dass ein Kind misshandelt wird?
Man sollte dem Verdacht nachgehen und das Kind erzählen lassen. Nicht alle Fälle erhärten sich. Manche stellen sich als Übertreibung oder Dramatisierung heraus. Nur in den seltensten Fällen sind es reine Erfindungen. (aargauerzeitung.ch)