Schweiz
Kommentar

Die Angst vor Flüchtlingen weicht grosser Hilfsbereitschaft: Den politischen Profitmaximierern geht das Thema aus

Natalie Rickli, Roger Köppel, Albert Roesti und SVP-Parteipräsident Toni Brunner bei einer Wahlkampfveranstaltung im Zürcher Hauptbahnhof. 
Natalie Rickli, Roger Köppel, Albert Roesti und SVP-Parteipräsident Toni Brunner bei einer Wahlkampfveranstaltung im Zürcher Hauptbahnhof. Bild: KEYSTONE
Kommentar

Die Angst vor Flüchtlingen weicht grosser Hilfsbereitschaft: Den politischen Profitmaximierern geht das Thema aus

Der erste Live-Ticker zur Ankunft von Asylbewerbern hat den Wahlkampf auf dem Buckel der Flüchtlinge beendet. Und das ist gut so. 
02.09.2015, 09:3609.11.2015, 13:57
Rafaela Roth
Mehr «Schweiz»

Das Radio vermeldete es stündlich. Der «20 Minuten»-Liveticker war seit 9 Uhr online: Es war soweit. Heute würde die Flüchtlingswelle die Schweiz erreichen. Am Dienstagmittag, 12.11 Uhr von Osten her kommend, würde sie erst den Bahnhof Buchs und dann das ganze Land überschwemmen. Klar wird da getickert. Wann kommt es schon vor, dass ein Tsunami pünktlich wie die Schweizer Bahn einfährt?  

Dann taucht er auf, der Zug aus Wien, aus dem sich Massen von Balkanrouten-Flüchtlingen ergiessen sollen. Diejenigen, die an den Stränden Griechenlands, an der Grenze Mazedoniens und dem Zaun Ungarns zu tragischen Hauptdarstellern des Sommerlochs avanciert waren. 

Jetzt endlich würde man sie filmen, mit ihnen sprechen können. Rund 40 Journalisten aus allen Ecken der Schweiz bringen also ihre Kameras in Stellung, die Grenzwächter straffen ihre Schultern, der Zug bremst, er kommt zum Stehen, die Türen gehen auf, es kann endlich losgehen. Und dann passiert … Nichts! 

Drei komplett erschöpfte Erwachsene, ein Baby von kaum drei Monaten und ein schlafendes Kleinkind in den Armen seines Vaters, der mit fragendem Blick ins Blitzlichtgewitter blinzelt. Das soll bedrohlich sein? Unbewältigbar? Das am dringendsten zu lösende Problem?   

Natürlich nicht.

Wenn es überhaupt möglich ist, in den unzähligen menschlichen Dramen, die sich in den letzten Wochen an den Stränden und Grenzen Europas abgespielt haben, etwas Gutes zu sehen, dann ist es das: 

Die rechten und bürgerlichen Scharfmacher, die Wahlkampf betreiben mit der diffusen Fremdenangst der Bevölkerung, sind entlarvt. Entlarvt als Zyniker, die auf dem Rücken von Babys in Tränengas-Schwaden und erstickenden Kindern in Schlepperlastwagen politische Profitmaximierung betreiben. 

Spätestens nach der vergangenen Woche haben die viel zitierten «Wirtschaftsflüchtlinge» und «Scheinasylanten» auch für den dumpfsten Xenophoben eine konkrete Gestalt angenommen. Diejenige verletzlicher Familien mit Kleinkindern, die mit wenig mehr als den Kleidern, die sie tragen, ein bisschen Schutz und Ruhe suchen. 

Wer es angesichts dieser Bilder jetzt noch als drängendstes Problem betrachtet, wie Unterbringung, Betreuung und Integration dieser Menschen zu zahlen und zu bewerkstelligen sind, dem ist nicht zu helfen. 

Aber alle anderen werden sich an die Bilder erinnern, wenn sie einen Roger Köppel, Philipp Müller oder Christoph Blocher auf einem Wahlzettel sehen. Der vermeintlich todsichere Punkt im Wahlkampf könnte sich als Wendepunkt der Wählergunst erweisen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
63 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Robert K.
02.09.2015 11:37registriert Februar 2015
Wie absurd: "Wirtschaftsflüchtling" ist jeder der flieht bzw. fliehen muss. Bsp. Wer aus Syrien flieht, dem fehlt (a) die Sicherheit zum leben (b) die Möglichkeit einer Tätigkeit für den Lebensunterhalt nachzugehen. Die "Wortschöpfung" verhöhnt Menschen in existenzieller Not und ist Menschverachtend.

PS. Der immer wieder aufgebrachte Hinweis auf "Asylmissbrauch", ist der Versuch die Arbeit der Schweizer Migrationsbehörden in den Dreck zu ziehen.
00
Melden
Zum Kommentar
avatar
poga
02.09.2015 09:58registriert November 2014
Mal eine kurze Frage an Watson. Wird die Berichtetstattung zu den Wahlen auch ein mal die Mitte bis Links Parteien treffen? Ich habe einen sehr guten Artikel zur SVP von Peter Blunschi gelesen. Kommt so etwas auch einmal zur SP oder zu den Grünen oder so? Oder beschränkt Ihr euch darauf die Fehler der Rechten Parteien aufzuzeigen?
00
Melden
Zum Kommentar
avatar
dracului
03.09.2015 06:32registriert November 2014
Mit den einfachen Rezepten der SVP sind die Herausforderungen nicht zu lösen. Einigelungstaktik, Reduit-Plan und Ausgrenzungen funktionieren in unserer globalen Welt nicht. Auf komplexe Fragen gibt es einfach keine einfachen Antworten und es braucht vor allem partei- und länderübergreifende Zusammenarbeit - je länger, desto mehr!
00
Melden
Zum Kommentar
63
Zürcher Obergericht stellt Cum-Ex-Verfahren gegen Eckart Seith ein

Scherbenhaufen für die Zürcher Staatsanwaltschaft im Verfahren gegen den deutschen Cum-Ex-Aufklärer Eckart Seith. Das Zürcher Obergericht hat den Fall am Donnerstag überraschend eingestellt. Einer der früheren Staatsanwälte sei befangen gewesen.

Zur Story