Das Radio vermeldete es stündlich. Der «20 Minuten»-Liveticker war seit 9 Uhr online: Es war soweit. Heute würde die Flüchtlingswelle die Schweiz erreichen. Am Dienstagmittag, 12.11 Uhr von Osten her kommend, würde sie erst den Bahnhof Buchs und dann das ganze Land überschwemmen. Klar wird da getickert. Wann kommt es schon vor, dass ein Tsunami pünktlich wie die Schweizer Bahn einfährt?
Dann taucht er auf, der Zug aus Wien, aus dem sich Massen von Balkanrouten-Flüchtlingen ergiessen sollen. Diejenigen, die an den Stränden Griechenlands, an der Grenze Mazedoniens und dem Zaun Ungarns zu tragischen Hauptdarstellern des Sommerlochs avanciert waren.
Jetzt endlich würde man sie filmen, mit ihnen sprechen können. Rund 40 Journalisten aus allen Ecken der Schweiz bringen also ihre Kameras in Stellung, die Grenzwächter straffen ihre Schultern, der Zug bremst, er kommt zum Stehen, die Türen gehen auf, es kann endlich losgehen. Und dann passiert … Nichts!
Drei komplett erschöpfte Erwachsene, ein Baby von kaum drei Monaten und ein schlafendes Kleinkind in den Armen seines Vaters, der mit fragendem Blick ins Blitzlichtgewitter blinzelt. Das soll bedrohlich sein? Unbewältigbar? Das am dringendsten zu lösende Problem?
Natürlich nicht.
Wenn es überhaupt möglich ist, in den unzähligen menschlichen Dramen, die sich in den letzten Wochen an den Stränden und Grenzen Europas abgespielt haben, etwas Gutes zu sehen, dann ist es das:
Die rechten und bürgerlichen Scharfmacher, die Wahlkampf betreiben mit der diffusen Fremdenangst der Bevölkerung, sind entlarvt. Entlarvt als Zyniker, die auf dem Rücken von Babys in Tränengas-Schwaden und erstickenden Kindern in Schlepperlastwagen politische Profitmaximierung betreiben.
Spätestens nach der vergangenen Woche haben die viel zitierten «Wirtschaftsflüchtlinge» und «Scheinasylanten» auch für den dumpfsten Xenophoben eine konkrete Gestalt angenommen. Diejenige verletzlicher Familien mit Kleinkindern, die mit wenig mehr als den Kleidern, die sie tragen, ein bisschen Schutz und Ruhe suchen.
Wer es angesichts dieser Bilder jetzt noch als drängendstes Problem betrachtet, wie Unterbringung, Betreuung und Integration dieser Menschen zu zahlen und zu bewerkstelligen sind, dem ist nicht zu helfen.
Aber alle anderen werden sich an die Bilder erinnern, wenn sie einen Roger Köppel, Philipp Müller oder Christoph Blocher auf einem Wahlzettel sehen. Der vermeintlich todsichere Punkt im Wahlkampf könnte sich als Wendepunkt der Wählergunst erweisen.
PS. Der immer wieder aufgebrachte Hinweis auf "Asylmissbrauch", ist der Versuch die Arbeit der Schweizer Migrationsbehörden in den Dreck zu ziehen.