
Sag das doch deinen Freunden!
Für die Schweizer
Kinos war 2015 ein glänzendes Jahr. Verantwortlich dafür sind
internationale Blockbuster wie der neuste Bond oder die Fortsetzung
der «Star Wars»-Saga – und zwei Produkte heimischen Schaffens.
Die Verfilmung des Kinderbuchklassikers «Schellen-Ursli» hat
bereits mehr als 300'000 Besucher angelockt und die Top 10 der ewigen Bestenliste erobert. Gar noch besser dürfte die neuste «Heidi»-Version abschneiden, die einen Traumstart hingelegt hat.
Beiden Filmen ist
nicht nur die Tatsache gemeinsam, dass ihre Stoffe zum Kanon der
hiesigen Volkskultur gehören. Sie bedienen die Sehnsucht der
Zuschauer nach einer ländlichen, überschaubaren, vermeintlich
gesunden Schweiz. Besonders deutlich ist dies beim Heidi der Fall,
das in der fernen Grossstadt Frankfurt verkümmert und erst daheim
beim Alpöhi wieder aufblüht.
Der Erfolg solcher Filme ist nicht neu und entspricht doch perfekt dem Zeitgeist. «Heidi» und «Schellen-Ursli» sind das cineastische Begleitprogramm zum Sieg der SVP bei den Wahlen im Oktober. Im Jahr 2015, in dem Europa von Krisen erschüttert wurde, hat sich der Wunsch nach einem Rückzug in eine heile Schweiz verstärkt, die sich abnabelt von den Übeln dieser Welt.
Dafür gibt es weitere Befunde: Das «Hoffnungsbarometer» der Vereinigung für Zukunftsforschung Swissfuture zeigt, dass ein harmonisches Privatleben für die Schweizerinnen und Schweizer das höchste der Gefühle ist. «Das Beschauliche, das Überschaubare und die Gemütlichkeit stehen wieder hoch im Kurs», sagte Swissfuture-Co-Präsident Andreas Walker zu 20 Minuten.
Die heutige Zeit
bezeichnet Walker als «Neo-Biedermeier». Der Wahlsieg der SVP passe
in dieses Bild: «Es soll bleiben, wie es ist, denken sich viele.»
Entsprechend ambivalent ist laut dem Hoffnungsbarometer die
Einstellung gegenüber Einwanderern. Sie werden als Bedrohung
empfunden, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder in den Sozialsystemen,
gleichzeitig aber betrachtet man sie als Gewinn für die Wirtschaft.
Biedermeier ohne Wohlstand – das dann doch nicht.
Die perfekte
Ergänzung liefert eine Studie der Forschungsanstalt WSL. Rund drei Viertel der Schweizer Bevölkerung
leben in der Stadt und der Agglomeration, aber eigentlich würde eine
Mehrheit am liebsten auf dem Land wohnen. In einer WSL-Umfrage
erhielt das Dorf als Wohnort die besten Noten, gefolgt von der
Kleinstadt.
Der
Durchschnittsschweizer träumt vom beschaulichen Familienleben im
Grünen – auf diesen Nenner liesse sich die helvetische
Befindlichkeit anno 2015 bringen. Die Widersprüche sind
offensichtlich, ohne gleich mit der Scheidungsrate von 50 Prozent zu
beginnen. Wir ziehen uns ins Private zurück und teilen dieses
Privatleben auf digitalen Kanälen exzessiv mit der Aussenwelt. Wir
träumen vom Dorfleben, obwohl die meisten Dörfer längst
agglomässig zersiedelt wurden.
Die heile Welt der Schweizerinnen und Schweizer ist mehr Schein als Sein. Das zeigt
sich auch in der realen Politik der SVP. Am letzten Tag einer für sie eher
durchzogenen Wintersession hat die neue rechte Mehrheit im
Nationalrat ihre Muskeln spielen lassen und den Zulassungsstopp für Ärzte beendet. Eine Machtdemonstration
am untauglichen Objekt: Kommt es zu einer Ärzteschwemme, werden die
Krankenkassenprämien noch stärker ansteigen und den Mittelstand belasten.
Das Signal ist
eindeutig. Die Leute wählen SVP, weil sie sich eine heile, neutrale
Schweiz mit einer harten Asyl- und Ausländerpolitik erhoffen. In
Wirklichkeit bekommen sie einen Angriff auf die freie Arztwahl, auf
die Altersrenten und eine Wirtschaftspolitik, die in erster Linie den
Reichen dient. Es ist das bekannte Doppelspiel, das die SVP seit
Jahren erfolgreich praktiziert: Die «kleinen» Leute wählen
ausgerechnet eine Partei, die gegen ihre eigenen Interessen
politisiert.
Das bleibt nicht
ohne Folgen für das Land. Neben der Heile-Welt-Schweiz existiert
eine andere Realität: Es sind jene Menschen, die das Stadtleben
vorziehen und eine Öffnung gegen aussen nicht als Bedrohung, sondern
als Chance betrachten. Die beiden Schweizen driften seit einigen
Jahren auseinander. Nun hat sich die Entwicklung verstärkt: In den
städtischen Gebieten hat bei den Wahlen entgegen dem nationalen
Trend die Linke zugelegt.
Bestes
Anschauungsmaterial liefert ein Film, der ganz anders ist als «Heidi» und «Schellen-Ursli»: Die SRF-Doku «Die Macht des
Volkes
», die am 18. Dezember ausgestrahlt wurde. Sie
porträtiert unter anderem zwei junge Frauen, eine SVP-Gemeinderätin
aus Aarburg (AG) und eine parteilose Studentin aus Zürich. Sie leben im
gleichen Land, sprechen die gleiche Sprache und bewegen sich dennoch
in vollkommen unterschiedlichen Welten.
Man hätte sich
gewünscht, der Film wäre auf diesen Gegensatz fokussiert geblieben,
statt sich an der SVP und ihren Attacken auf die
Rechtsstaatlichkeit abzuarbeiten und dabei zweifelhafte Kampfbegriffe
wie «Volksdiktatur» zu verwenden. Die wachsende Kluft
zwischen der ländlichen und der urbanen Schweiz ist ebenso
vernachlässigtes wie brisantes Thema. Das zeigen nicht zuletzt die
gereizten Reaktionen von SVP-Anhängern, die sich ihr Idealbild einer
Schweiz als einig Volk von Brüdern (und Schwestern) nicht verderben
lassen wollen.
Die Konfrontation
mit der Realität aber wird kommen, eher früher als später. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Die Schweiz ist keine Insel
der Seligen, sie kann sich von der Welt nicht abkoppeln, so lange
sie mit ihr Geschäfte machen will. Schon 2016 werden wichtige
Weichen gestellt: Im neuen Jahr muss die Schweiz sich darüber
im Klaren werden, wie sie ihr Verhältnis zur EU gestalten und ob sie weiter auf den bilateralen Weg setzen will.
«Heidi» und «Schellen-Ursli» sind nicht umsonst Stoffe aus der Vergangenheit. Das Heile-Welt-Bild, das sie bedienen, war schon damals eine Utopie. Das gilt erst recht für das globalisierte 21. Jahrhundert. Kürzlich lief übrigens noch ein Schweizer Film in den Kinos an. Er nennt sich «Heimatland» und schildert eine dystopische Schweiz, über der eine dunkle Wolke aufziehen. Ein deutlicher Kommentar auf den Vormarsch der SVP.
Muss man erwähnen, dass nur wenige ihn sehen wollten?
Ich mache auch in meinem Umfeld wiederholt die gleiche Beobachtung, die Herr Blunschi hier schön aufführte, es wird sich von der Realität abgeriegelt und das Reduit der Geranien geschaffen, eine Traumwelt, die nicht existieren kann.
Vielleicht das allgemein aktuell oft beobachtbare Symptom der Überforderung mit der komplexität der Realität?