Sag, wie hast du’s mit dem Tierschutz? Eine Frage, die die meisten Konsumenten in der Theorie leicht beantworten können. Schwieriger wird es in der Praxis vor dem Fleischregal: Zwischen all den Nachhaltigkeits- und Tierschutzlabels verliert so manch einer den Überblick. Wer wissen will, hinter welchem Logo sich die glücklichsten Tiere verbergen, muss sich aktiv informieren.
Einen Versuch, ein einfaches Deklarationssystem einzuführen, unternimmt nun der Discounter Lidl in Deutschland. Ab April versieht er sämtliche Frischfleischprodukte mit einer Zahl von 1 bis 4. Wobei die 1 die schlechteste aller Haltungsformen – eine reine Stallhaltung – bezeichnet. Die höchste Note 4 erhalten Produkte, bei denen die Tiere nicht nur Auslauf erhalten, sondern darüber hinaus auch nach den Grundsätzen der biologischen Landwirtschaft gehalten werden.
Der «Haltungskompass» soll den Konsumenten helfen, «eine bewusste Kaufentscheidung zu treffen», schreibt Lidl in einer Mitteilung. Damit kommt der Discounter der Politik zuvor: Erklärtes Ziel von Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) ist es, in Deutschland einheitliche, staatliche Tierwohl-Labels einzuführen.
Ein Projekt, das auch in der Schweiz mit Argusaugen beobachtet wird. Sara Stalder, die Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS), sagt: «Eine Vereinfachung und Vereinheitlichung der Lebensmittel-Labels wäre auch hierzulande unbedingt wünschenswert.» Viele Konsumenten seien im Label-Dschungel heillos verloren.
Der Konsumentenschutz habe die Schweizer Detailhändler bereits wiederholt dazu aufgefordert, auf einheitlichere Labels zu setzen, so Stalder. «Doch die Verantwortlichen wehren sich mit Händen und Füssen dagegen, weil sie sich aus Marketing-Gründen von der Konkurrenz unterscheiden wollen.»
Als Reaktion darauf rief die SKS zusammen mit anderen Organisationen einen Label-Ratgeber ins Leben. Er teilt die Lebensmittel-Labels in vier Kategorien ein – von «ausgezeichnet» bis zu «bedingt empfehlenswert». Für das System von Lidl findet Stalder lobende Worte, weil es auf eine einfach verständliche Darstellung setze. Allerdings werde am Ende entscheidend sein, wie die einzelnen Kategorien definiert sind. «Da besteht die Gefahr, wenig Leistung gross auszuloben.»
Denn hinter jedem einzelnen Label steckt heute ein komplexes Regelwerk: Wie oft dürfen die Tiere nach draussen, wie viel Platz haben sie, welches Futter fressen sie? All die Aspekte in einem Label mit vier Kategorien zusammenzufassen, gleiche einer «Herkulesaufgabe», so Stalder. Labelkriterien zu definieren, ist aus ihrer Sicht Aufgabe der Detailhändler, nicht der Politik: Denn letztere würde sich zwangsläufig auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen – «was einem Label ohne Mehrwert gleichkäme».
Hans-Ulrich Huber vom Schweizer Tierschutz STS macht darauf aufmerksam, dass die Tierwohl-Situation in der EU deutlich prekärer ist als in der Schweiz: «In Deutschland ist Labelfleisch noch kaum verbreitet, die meisten Fleischprodukte im Detailhandel stammen aus Massentierhaltung – für die Tiere bedeutet das himmeltraurige Zustände.»
Das vierstufige Modell von Lidl habe den Vorteil, dass es auch für wenig sensibilisierte Kunden einfach verständlich sei, so Huber. «Ein Konsument überlegt es sich so sicher zweimal, ob er wirklich das Produkt mit dem schlechtesten Standard 1 in den Einkaufskorb legen will.»
Im Gegensatz zu Stalder ist er jedoch der Meinung, in der Schweiz hätten sich die bestehenden Labels bewährt. «Für viele Konsumenten ist das wichtigste Kriterium, dass der Bauer den Tieren regelmässig Auslauf im Freien gewährt.» Dies sei in der Schweiz «bei allen guten Labels» gewährleistet. Interessiere sich jemand zusätzlich für die feinen Unterschiede zwischen den Labels, werde er im Internet problemlos fündig.
Eine Wissenslücke ortet der Tierschützer bei den Schweizer Konsumenten anderswo: «Repräsentative Umfragen zeigen, dass viele Menschen die Schweizer Tierschutzgesetzgebung überschätzen.» Dass es in der Schweiz erlaubt ist, ein Mastschwein auf einer Fläche von weniger als einem Quadratmeter und ohne Einstreu zu halten, sei vielen Leuten nicht bewusst. «Sie lassen sich von den Bildern glücklicher Tiere in der Werbung irreleiten.»
Der Schweizer Tierschutz erhebt regelmässig den Anteil an Tierwohl-Label-Produkten in den Schweizer Supermärkten. Der letzte Bericht für die Jahre 2015/16 kommt zu einem positiven Fazit: Der Anteil an Labelfleisch sei insgesamt deutlich angestiegen.
Allerdings bestehen grosse Unterschiede zwischen den verschiedenen Detailhändlern: So trugen bei Migros und Coop im Jahr 2015 rund die Hälfte der Kalbs-, Rinds-, Schweine- und Geflügelprodukte ein Label, bei Manor und Volg sogar zwei Drittel.
Bei Aldi und Lidl bewegte sich der Wert damals noch im einstelligen Bereich. Allerdings haben beide Discounter seither aufgerüstet. So nahm Lidl Schweiz – der den deutschen «Haltungskompass» vorerst nicht übernimmt – 2016 Bio-Weiderind in sein Sortiment auf. Aldi verweist unter anderem auf sein Eigenlabel Nature Suisse Bio.
Übereinstimmend stellen alle angefragten Detailhändler fest, dass die Nachfrage nach Produkten mit hohen Tierwohlstandards stetig steige. Um diesem Bedürfnis Rechnung zu tragen, reichten die bestehenden Labels jedoch aus, so das Echo.
«Unsere Tierwohllabels, so etwa Naturafarm, gehören zu den bekanntesten und glaubwürdigsten Labels in der Schweiz», heisst es bei Coop. Und die Aldi-Medienstelle teilt mit: «Da für die Produktion all unserer Artikel stets die gültigen Vorgaben und Tierschutzgesetze eingehalten werden, sind die bestehenden Labels vollkommen ausreichend.»
Bei Denner heisst es, das heutige Sortiment bestehe zu über 85 Prozent aus Schweizer Fleisch und ist grösstenteils durch das Label «Suisse Garantie» oder «IP-SUISSE» zertifiziert.*
Einzig Migros-Sprecher Luzi Weber räumt ein: «Fakt ist, dass die Konsumenten zum Teil überfordert sind – sei dies aufgrund der Komplexität oder auch der Tatsache, dass viele Konsumenten mit der Urproduktion nicht mehr vertraut sind.» Migros prüfe daher laufend «Optionen zur Verbesserung der Kommunikation und Steigerung der Verständlichkeit von Botschaften bei den Konsumenten».
*In einer früheren Version des Artikels fehlte dieser Abschnitt. Auf Wunsch der Unternehmenskommunikation von Denner wurde der Artikel im Nachhinein um diesen Abschnitt ergänzt.