Mit dreizehn küsste er zum ersten Mal. Auf einem Klappsitz zwischen der ersten und zweiten Klasse im Zug kurz vor dem Zürcher Hauptbahnhof. Als er in der Pubertät war, da schwärmte er für die Französin Françoise Arnoul, weil sie in einer Filmszene eine regennasse Bluse trug. Mit 28 heiratete er seine Romy und machte sie zu Romy Schneider. Und wenn ihm Romy eine besondere Freude machen wollte, dann gab es frischen Fruchtsalat. Sein Lieblingsessen war allerdings weit schwerer: «Eine Kürbiscrèmesuppe mit einem Schuss Amaretto, Voressen mit Kartoffelstock und Rüebli und nachher noch eine Crêpe Suzette.»
Als er in einem Interview etwas unsanft auf sein offensichtliches Übergewicht hingewiesen wurde, sagte er: «Ich habe nur einmal im Leben zehn Kilos abgenommen. Da habe ich mir aber gar nicht gefallen.» Die Frage «Treiben Sie wenigstens Sport?» parierte er mit «Nein, nicht im geringsten». Und am liebsten verglich er sich mit einem Pfirsich: «Wir sind beide prall, rundlich und gut im Saft.»
Seiner Romy gefiel er auch einmal nicht. Als er sich für seine Rolle in «Ändspiel», der Mundartfassung von Becketts «Endspiel», den Kopf kahl rasierte. Damals war er 67, es war nicht sein erster Beckett, denn neben dem Vollblut-Volksschauspieler war Jörg Schneider einer, der sich immer auch heimlich nach der Hochkultur und nach dem Abglanz der Feuilleton-Weihen sehnte. Auch wenn er das nicht richtig zugeben wollte. Auch wenn er wetterte gegen die Egerkinger Autobahnraststätten-Serie «Motel», in der er 1984 Koch Koni spielte.
«Motel» war damals die grosse Autoren-Serie des Schweizer Fernsehens mit rund 820'000 Zuschauern. Der «Blick» schrieb alles in Grund und Boden, nicht zuletzt, weil Homosexualität und Drogenkonsum thematisiert wurden. Jörg Schneider, der Liebenswerte, der Populäre, hätte die Medien umstimmen sollen, es gelang ihm aber auch nicht wirklich. «Motel» wurde zum grössten Trauma seiner Karriere, und bis er sich wieder als tragisch verliebter Buchhalter Oskar in «Lüthi & Blanc» ins Fernsehen getraute, dauerte es gut zwanzig Jahre. Liebesentzug war er sich nicht gewohnt.
Jörg Schneider die Liebe zu entziehen, war aber auch eigentlich gar nicht möglich. Denn Jörg Schneider war seit 1967 der Kasperli. Und damit der schlaue Kumpel aller Schweizer Kinder. Ein altkluger Bub, ein frecher Bengel, ein mitfühlender Freund, ein genialer Bastler (wie Kasperli die Eiskönigin Eulalia mit einem Raclette-Öfeli aus einem Eiszapfen schmilzt, potz Holzöpfel und Zipfelchappe!). Und selbstverständlich immer auf der Seite des Guten. So, wie auch Jörg Schneider ganz grundsätzlich ein Guter war.
Millionenfach haben sich die «Kasperlitheater» schon verkauft, bis vor kurzem waren es über 50'000 CDs jedes Jahr, einiges musste im Lauf der Jahrzehnte angepasst werden, aus «Negerli» wurden «Afrikaner». Ausgerechnet die Kinder der 68er dürften die kasperlisüchtigste Generation der Schweiz gewesen sein. Und schon längst haben sie die alten Hörspiele an ihre Kinder weitergegeben. Und nerven sich, wenn das «Tra-tra-trallala» dann wochenlang in Endlosschlaufe aus den Lautsprechern quäckt.
Jörg Schneider hat die gut vierzig «Kasperlitheater» selbst geschrieben, all die Figuren erfunden, die Räuber Joggel und Toggel, den Rüeblidieb, das Prinzässli Finöggeli. Hinter Schorsch Gaggo, der nach Afrika reist, steckt Schneiders Sohn Urs, der als Kind selbst kakaosüchtig war. Im Juni 2010 starb Urs mit 46 Jahren an einem Herzversagen. Nur wenige Monate, nachdem Romy nach einer schweren Operation im Rollstuhl sass.
Zehn Jahre zuvor war ausgekommen, dass Jörg Schneider, dem Sonnigen, Rechtschaffenen, dem Bühnen-König der Schwänke und Musicals mit Happyend, nach ein paar Ehejahren ein Missgeschick passiert war. Dass es da auch noch den unehelichen Sohn Patrick gab. Der als Kind mit Urs im Sandkasten gespielt und mit ihm die Kasperli-Platten des gemeinsamen Vaters gehört hatte. Es entbrannte ein wüster Streit, Patrick zerrte Jörg Schneider vor Gericht, Urs bezeichnete Patrick als «himmeltraurigen Fötzel».
Zu seiner eigenen Kindheit sagte Jörg Schneider fast nichts. Sie sei sehr streng gewesen und sehr bürgerlich. Und leider habe er wegen früh einsetzender Rundlichkeit als Kind im Schultheater einmal keinen Prinzen, sondern nur ein Schneeglöggli spielen dürfen. Gern wäre er auch Pfarrer geworden. Hauptsache, er konnte vor Publikum reden. Später brach er zuerst das Lehrerseminar ab und dann eine Lehre zum Eisenwarenhändler, bevor er endlich Schauspieler wurde und schliesslich der beliebteste Dialekt-Darsteller der Schweiz.
Er war der Rührselige, der bei «Cinema Paradiso» und bei Dvorák weinte. Romy – ganz ohne Prinzessinnen-Fantasien in Kinderheimen aufgewachsen – war die Gradlinige, Klare, Kritische. Und auch wenn es diese Scharte gab im ersten Jahrzehnt ihrer Liebe, blieben sie einander doch bis zuletzt in äusserster Hingabe verbunden. Und kurvten in ihrer Wohnung in Wetzikon beide in ihren Rollstühlen um einander herum, wie Jörg Schneider das einmal sehr lustig beschrieb.
Er hatte sich immer gewünscht, seinem Tod ohne Gebresten entgegen sehen zu dürfen, es wurde ihm verwehrt. Es war ein ernster Abschied, kein leichter, den er seit seiner Krebsdiagnose im Herbst 2014 von uns genommen hat. Und er nahm ihn mit der grossen, ernsten Film-Hauptrolle, die er sich immer gewünscht hatte, in «Usfahrt Oerlike» von Paul Riniker. Im Film also, in dem «Usfahrt» Exit bedeutet und damit die Erlösung eines alten Mannes von seiner Gebrechlichkeit.
Jörg Schneider ist jetzt selbst erlöst worden. Nur wenige Monate nach dem unerwarteten Tod seines «Usfahrt Oerlike»-Partners Mathias Gnädinger. Und noch vor seiner Romy. Mit achtzig küsste er sie zum letzten Mal.
Auch unvergesslich die kleine Niederdorfoper im Corsotheater...
Danke Jörg Schneider für die unterhaltsamen Stunden....Danke....Heb Rüggewind und d'Sunne im Gsicht.