Wer sich in den Kreisen der alternativen Zürcher Kunstszene bewegt, hat über kurz oder lang schon einmal vom Theaterhaus Gessnerallee gehört. Das Theater bietet auf dem alten Kasernenareal Interpretationen der modernen Art an:
Und wer einmal die «Gessi» besucht hat, ist auch unweigerlich an der Hausbar, dem Stall 6, vorbeigekommen – die Bar dient als Foyer zum Theater. Während der Stall 6 früher noch für seine Partys und Konzerte (Faber und Stereo Luchs sind hier gross geworden) bekannt war, liegt der Fokus der Bar heute mehr auf gebuchten Veranstaltungen und Theateranlässen.
Nun geht es dem Stall 6 finanziell so schlecht, dass das Theaterhaus, welches die finanzielle und organisatorische Leitung über die Bar hat, ihn an das nebenan liegende Restaurant Riithalle bis im Juli 2024 befristet vermietet. Wie konnte es dazu kommen?
watson hat mit einer Angestellten des Stall 6 gesprochen. Für sie liegt der Grund für den finanziellen Niedergang der Bar bei der Geschäftsleitung. Früher sei sie selber gerne an die Events im Stall 6 gegangen:
Wenn dann mal ein cooler Event stattfinde, dann werde er nur wenig und schlecht promotet, findet die junge Frau, die anonym bleiben will. Das zeige sich auch an den schwindenden Besucherzahlen und damit eingehenden Einnahmen: «Wir merken schon lange bei den abendlichen Abrechnungen, dass die Bar minus macht.»
Doch seien es nicht nur die Art der Veranstaltungen, die den Betrieb des Stall 6 schwer machen, sondern auch das grundlegende Konzept: Weil die Bar als Foyer für das Theater fungiert, muss sie immer geöffnet haben, wenn ein Stück gespielt wird.
Die Besucherschaft sei aber zum Teil wenig konsumierfreundlich und je nach Aufführung zahlenmässig sehr bescheiden, das Barpersonal muss trotzdem in der Gessnerallee arbeiten (und bezahlt werden), auch wenn fast niemand kommt.
Dass nun der zuvor nicht profitorientierte Stall 6 an ein privates Unternehmen, die «Riithalle», vermietet wird, stösst bei den Mitarbeitenden auf Unverständnis:
Nicht alle Mitarbeitenden des klar links positionierten Stall 6 würden für ein profitorientiertes Restaurant arbeiten wollen, und schon gar nicht für eines mit «massiven FDP-Vibes». Sie kritisieren, dass kein anderes Restaurant für die Vermietung in Betracht gezogen wurde. Nicht zuletzt auch deswegen, weil im Zusammenhang mit der Riithalle, so die Mitarbeiterin, gewisse Vorfälle geschehen seien.
So sei eine trans Künstlerin in der Riithalle aus dem Frauen-WC gescheucht worden, Kellner hätten rassistisch angelehnte Sprüche gemacht; die Riithalle weigere sich auch konsequent, eine geschlechterneutrale Toilette einzuführen. Für die Mitarbeiterschaft des antirassistischen, antifaschistischen und progressiven Stall 6 ein No-Go.
Die Mitarbeitenden wurden kurz vor der Sommerpause mündlich über die Vermietung informiert. Die Person, die die unschöne Botschaft übermittelte, ist selber kein Mitglied der Geschäftsleitung (oder, wie diese in der «Gessi» heisst, Gesamtkoordination), sondern auf der Website als «Unterstützung Gesamtkoordination» ausgewiesen.
Als Reaktion darauf verfasste die Mitarbeiterschaft einen Brief an den Vorstand des Theaterhauses, in dem sie ihre Kritik äussert und gewisse Forderungen anbringt. Dieser Brief liegt watson vor. Ein Auszug daraus:
Die Forderungen sind konkreter: Man wolle beispielsweise keine Uniformpflicht, da Uniformen «nicht normierte Körper ausschliessen». Für das (nicht fix angestellte) Barpersonal soll ein dreimonatiger Kündigungsschutz ausgehandelt werden. Ausserdem solle die Gessnerallee weiterhin ein Mitspracherecht bei der Besetzung des Barpersonals behalten dürfen – bei Veranstaltungen mit beispielsweise LGBTQ-sensiblen Inhalten soll dadurch geschultes und sensibles Personal eingesetzt werden können.
Die «Unterstützung Gesamtkoordination» reagierte mit einer E-Mail. Man habe die Anliegen übermittelt und in die Gespräche einfliessen lassen. Ausserdem hätte auch die Geschäftsleitung sich mehr Zeit gewünscht, eine Lösung zu finden – wegen des finanziellen Drucks sei dies jedoch die beste Lösung gewesen, bei der kein Barpersonal hätte entlassen werden müssen.
Michelle Akanji ist seit 2020 Co-Gesamtkoordinatorin des Theaterhaus Gessnerallee. Bei ihrem Antritt beschloss sie, zusammen mit den anderen zwei Mitgliedern der Geschäftsleitung, einen Strategiewechsel für den Stall 6.
«Bezüglich des Programms wollten wir uns von den kommerziellen Partys wegbewegen, weil das Publikum dieser Veranstaltungen teils nicht zur Gessnerallee und deren Werten passte.» Um trotzdem wirtschaftlich stabil zu bleiben, habe man neben dem Musik-Programm und dem Barbetrieb auf Vermietungen für private oder Firmen-Events gesetzt. Mit diesem programmatischen Strategiewechsel habe man finanzielle Einbussen riskiert, aber:
Man könne die Bar nicht mit anderen Gastrounternehmen vergleichen, so Akanji. Mit dem Strategiewechsel sollte der Stall 6 fluider und enger an das Theaterhaus gebunden werden. Dass die Bar dabei Freiheiten verloren hat, findet sie nicht:
«Der Stall 6 war nie eine eigenständige Einheit, er war immer ins Theaterhaus integriert.» Die Verantwortlichen wurden einfach in die Struktur der Gessnerallee eingegliedert und waren nicht mehr nur für die Bar zuständig. Die Personen hinter den Stellen hätten sich dabei vorerst nicht geändert.
Dass der Strategiewechsel der Hauptgrund für die finanziellen Sorgen des Stall 6 ist, sieht Michelle Akanji nicht so. Das Problem liege eher darin, dass seit der Corona-Pandemie, die die «Gessi» stark getroffen hatte, einfach weniger Leute ins Theater kämen, dort weniger lang blieben und in direkter Konsequenz weniger konsumierten.
Das schwindende Interesse am Theater hänge auch damit zusammen, dass die Medien faktisch nicht mehr über Veranstaltungen berichteten. Ausserdem hätten mehrere Krankheitsausfälle (teils coronabedingt) zu Verzögerungen im Arbeitsalltag geführt, was die Abläufe in der Bar nicht vereinfacht hätte.
Um den finanziellen Problemen entgegenzutreten, habe man stets Massnahmen ausgearbeitet und umgesetzt, beispielsweise mit dem schon erwähnten Fokus auf Vermietungen oder mit einem neuen Anstrich der Innenwände. Dabei seien die Barverantwortlichen stets involviert gewesen, so Akanji, man könne also der GL nicht vorwerfen, dass sie dem Stall 6 kein Mitspracherecht eingeräumt hätten.
Bei den Vertragsgesprächen wurden die Mitarbeitenden nicht einbezogen. Nach dem Entscheid, den Stall 6 temporär an die Riithalle zu vermieten, seien jedoch Rückmeldungen des Teams in die Vereinbarung eingeflossen.
Schlussendlich stünden den Mitarbeitenden weder die Kompetenzen noch das nötige Hintergrundwissen zur Verfügung, welche bei den Vertragsverhandlungen notwendig seien.
Darf das öffentlich finanzierte Theaterhaus überhaupt einen Bestandteil seiner selbst an ein privates Unternehmen vermieten? «Ja», sagt Margrit Bürer, Vorstandspräsidentin des Theaterhaus Gessnerallee, im Gespräch mit watson – zumal die Vermietung zeitlich begrenzt sei.
Man habe bei den Behörden dafür das Okay eingeholt. Die «Gessi» wird jährlich von der Stadt mit über drei Millionen Franken (inkl. Mieterlass) unterstützt. Und es werden noch mehr: Ab 2024 zahlt die Stadt Zürich zu den bisherigen Geldern zusätzlich 690'000 Franken zweckgebundene Produktionsgelder (diese Mittel stehen in Zusammenhang mit dem neuen Fördersystem Tanz und Theater der Stadt Zürich). Von den vier Ko-Produktionsstädten der Stadt erhält die Gessnerallee mit Abstand am meisten.
Wäre es bei solchen Summen nicht möglich, den Stall 6 querzusubventionieren? Bürer verneint: «Die Gelder der Stadt sind primär für den Theaterbetrieb und die Produktionen gedacht.» Damit dürfe man keinen Gastrobetrieb finanzieren, auch wenn er zum Theater gehört und nicht auf Profit ausgerichtet ist.
Angesprochen auf die Problematik der Profitorientierung der Riithalle merkt Bürer an, dass sie Verständnis für die Mitarbeitenden habe, die nicht für ein gewinnorientiertes Restaurant arbeiten möchten, es sie aber irritiere, wenn man andererseits kein Problem damit habe, Lohn aus staatlichen Subventionsmitteln finanziert zu erhalten.
Das Restaurant Riithalle ist währenddessen die grosse Gewinnerin aus dem Deal. Nur 8 Prozent der Einnahmen muss Gian Gross, Teilinhaber der Riithalle, an das Theaterhaus abgeben. Der Rest bleibt beim Restaurant.
Zwar muss der Stall 6 weiterhin als Foyer für das Theaterhaus dienen und bleibt somit an den Spielplan gebunden. Öffentliche Veranstaltungen dürfen nur in Absprache mit der Gessnerallee durchgeführt werden, bei privaten Events hat die Riithalle hingegen freie Hand.
Die Bedenken des Barpersonals, dass die Riithalle nicht die optimale Betreiberin für den progressiven, queerfreundlichen Stall 6 sei (siehe die erwähnten Vorfälle), entgegnet Gross:
Zusätzlich zu den bereits bestehenden internen Schulungen fände noch diesen Sommer eine Awareness-Schulung für all ihre Mitarbeitenden des Stall 6 statt, so Gross auf Anfrage von watson.
Für ihn ist wichtig, dass der ungezwungene Spirit der Bar erhalten bleibt. Dass die Besucherschaft im Stall 6 sich nun ändern würde, sieht er nicht so – die Besucher der Riithalle seien schliesslich auch «in jeglicher Hinsicht divers und vielseitig.»
Und die Uniformpflicht, die das Barpersonal nicht wolle, sei auch nur halb so dramatisch: Es gehe lediglich darum, als Einheit aufzutreten, damit man das Personal auch als Personal erkennt – wie in jedem Gastrobetrieb.
Aber der Stall 6 war bislang eben nicht wie jeder Gastrobetrieb. Inwiefern sich nun der Betrieb ändert, wird sich noch zeigen. Bis im Juli 2024 übernimmt die Riithalle den Stall 6. Was danach geschieht, steht noch in den Sternen – genauso wie die Zukunft des Barpersonals.
Die Geschäftsleitung der «Gessi» tritt dann ab und überlässt jemand neuem die Verantwortung über das Theater und die Bar. Mit der neuen Leitung sei man aber stets in Kontakt, und diese sei sich der Problematik des Stall 6 bewusst, so Michelle Akanji.