Schweiz
Kunst

Der Tanzakademie Zürich wird Missbrauch vorgeworfen – Betroffene erzählen

Der Tanzakademie Zürich wird Missbrauch vorgeworfen – Betroffene erzählen

Über Jahre hinweg sollen Lehrpersonen der Tanzakademie Zürich ihre Schülerinnen und Schüler gemobbt haben. Die «ZEIT» hat mit Betroffenen über ihre Erfahrungen gesprochen und watson hat bei einer Expertin nachgefragt: Wieso tut man sich so etwas an?
03.06.2022, 13:4303.06.2022, 14:39
Mehr «Schweiz»

Die Recherche

Die ZEIT hat mit 13 ehemaligen Schülerinnen und Schülern gesprochen, welche zwischen 2007 und 2021 an der Tanzakademie Zürich (TaZ) unterrichtet wurden. Vier davon liessen sich mit Namen zitieren, neun wollten anonym bleiben, um ihre Karriere nicht zu gefährden oder weil sie ihre Krankheitsgeschichte nicht öffentlich machen wollen.

Die Erzählungen der 13 ehemaligen Schülerinnen und Schüler gleichen sich: An der Schule lag psychischer Missbrauch und Bodyshaming an der Tagesordnung. Um dies zu unterstreichen, zeigten einige Betroffene E-Mails der Schulleitung oder Tagebucheinträge.

Die Berichte der ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind erschütternd. Viele von ihnen leiden noch heute an den Folgen des psychischen Drucks, den sie an der TaZ erlebt haben.
Die Berichte der ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind erschütternd. Viele von ihnen leiden noch heute an den Folgen des psychischen Drucks, den sie an der TaZ erlebt haben.shutterstock

Die Schule

An der Spitze der Tanzakademie Zürich stehen die ehemaligen Star-Tänzer Steffi Scherzer und Oliver Matz. Beide waren über Jahre hinweg an der Deutschen Staatsoper in Berlin tätig, wo sie als das Traumpaar des Berliner Balletts galten. Ausgebildet wurden beide im ehemaligen Ostberlin an der Staatlichen Ballettschule. 2005 kamen sie nach Zürich und gründeten die Tanzakademie Zürich. Matz ist bis heute für die Gesamtleitung, Scherzer für die künstlerische Leitung zuständig.

«Fussspuren XVII»

Eine Aufführung von Schülerinnen und Schülern der Tanzakademie Zürich.Video: YouTube/Tanzakademie

In den Erzählungen der ehemaligen Schülerinnen und Schüler tauchten beide immer wieder auf. Ausnahmslos alle Schülerinnen und Schüler, mit denen die «ZEIT» gesprochen hat, hätten vor Matz und Scherzer Angst gehabt. Doch nicht nur sie – auch andere Lehrpersonen werden erwähnt. Die «ZEIT» entschied sich jedoch dazu, diese nicht namentlich zu nennen. Damit soll darauf verwiesen werden, dass es sich nicht bloss um das Vergehen individueller Personen, sondern um ein System handle. Ein System, welches psychische Misshandlungen billige.

Der Fokus auf den Körper

Die Vorwürfe der ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind happig. Besonders geblieben ist allen der extreme Fokus auf das Gewicht. Gewünscht sei ein kindlicher Körper, der keine Rundungen zeige. So wird das beim Übertritt ins Hauptstudium auch vertraglich festgehalten: Der Body-Mass-Index (BMI) der Jugendlichen soll zwischen 16 und 18 liegen, wobei gemäss Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation ein BMI von weniger als 18,5 als Untergewicht gilt.

Pauschal lässt sich damit zwar keine Verbindung zur Gesundheit herstellen. Denn der menschliche Körper ist dafür viel zu individuell. Dennoch: Ein BMI unter 17 gelte auch bei erwachsenen Profitänzerinnen als besorgniserregend, sagt Liane Simmel, Leiterin des Instituts für Tanzmedizin in München, gegenüber der «ZEIT». Die Wahrscheinlichkeit einer Essstörung sei bei einem BMI in diesem Bereich hoch, zudem könne er bei Tänzerinnen im Wachstum zu bleibenden Schäden führen.

Ballett Schule Tanzen
«Wir mussten wie Kinder aussehen», erzählt Annaëlle Müller. Bild: shutterstock

Sportmedizinerin Nora Wieloch von der Universitätsklinik Balgrist teilt die Besorgnis und nannte die Menstruation als ein wichtiges Indiz für die Gesundheit. Bleibe diese mehr als sechs Monate aus, sei etwas nicht gut. Wenn man dann nicht reagiere, könne dies Auswirkungen auf das Immunsystem, das Herz-Kreislauf-System und die psychische Gesundheit haben. Besonders bemerkbar macht sich das Untergewicht auch in der Knochendichte, was zu Osteoporose und Ermüdungsbrüchen führen kann.

Der psychische Druck

Wurden die Schülerinnen und Schüler dem Körperideal nicht gerecht, so bekamen sie dies von ihren Lehrpersonen sofort zu spüren. «Wenn jemand auch nur 200 Gramm zugenommen hatte, verkündete unsere Lehrerin dies vor der ganzen Klasse», erzählt Annaëlle Müller, welche von 2012 bis 2015 an der TaZ war.

Der Umgang war grob: Es wurde geschimpft, geschrien, gedemütigt. Der Druck führte bei vielen Betroffenen zu Depressionen und Essstörungen. Besonders offensichtlich sei dies im Internat gewesen. Wie Noa Reber, von 2009 bis 2012 Schülerin an der TaZ, erzählt, hätten sich nach dem Abendessen jeweils Warteschlangen vor den Toiletten gebildet: So viele Mädchen wollten sich nach dem Essen übergeben. Diesen Druck erlebte auch Jemima Rose Dean, welche aus Westaustralien für ein Stipendium an der TaZ in die Schweiz kam:

«Unser Gewicht war wichtiger als unsere Leistung. Sie [Steffi Scherzer] schrie mich fast täglich an oder schickte mich aus dem Studio. Die schlimmste Strafe war aber, wenn sie mich ignorierte. Denn ich wünschte mir nichts sehnlicher, als von ihr gesehen zu werden und ihr zu gefallen. Frau Scherzer war die oberste Instanz, nur ihre Meinung zählte.»

Auch bei Fehlern zeigten die Lehrpersonen keine Gnade. Jeden Tag sei den Schülerinnen und Schülern eingetrichtert worden, dass sie «absolut scheisse tanzen» und es niemals zu etwas bringen würden. Zudem habe es eine barre of shame gegeben – die Stange der Schande, die dazu bestimmt war, Schülerinnen und Schüler blosszustellen. Zu dieser etwas abseitsstehenden Stange wurden diejenigen Kinder geschickt, die nicht gut waren. Auch mit persönlichen Beleidigungen hielten sich die Lehrpersonen nicht zurück, erinnert sich Annaëlle Müller:

«Eines Tages, ich war im vierten TaZ-Jahr, machte mich meine Hauptlehrerin mal wieder für zehn Minuten vor der ganzen Klasse fertig. Wir standen kurz vor der Semesterprüfung und sie gab mir zu verstehen, ich würde diese bestimmt nicht bestehen. Die Kritik zielte nicht nur auf meine Leistung ab, sondern auch auf mich als Person. Ich war unendlich verzweifelt und wusste, wenn ich jetzt nicht gehe, springe ich vor den Zug. Also packte ich all meine Sachen zusammen und setzte nie mehr einen Fuss in die TaZ.»

Die Reaktion

Die «ZEIT» hat die Leitung der TaZ um eine Stellungnahme gebeten, Matz und Scherzer wollten sich nicht dazu äussern. Die Direktorin für Darstellende Künste und Film an der ZHdK, Marijke Hoogenboom, bezog allerdings Stellung. Sie ist seit 2019 in dieser Funktion tätig und weiss, dass es schon vor ihrem Antritt zu Vorfällen gekommen sei, «bei denen sich Dozierende gegenüber Schüler:innen in Wortwahl, Ton oder Unterrichtspraxis unangemessen verhalten haben». Trotz Massnahmen habe sich die Lage anscheinend nicht verbessert, weshalb man weitere Massnahmen, Regularien und transparente Prozesse zur Qualitätssicherung eingeführt habe.

Der Rektor der ZHdK, Thomas D. Meier, hat umgehend reagiert. Nachdem er mit den Recherchen der «ZEIT» konfrontiert worden war, leitete er am 31. Mai eine Administrativuntersuchung ein. Ende Jahr sollen die ersten Ergebnisse bereitliegen. Bis dann will die ZHdK gemäss eigenen Angaben keine detaillierte Stellung beziehen.

Misshandlungen im Spitzensport sind leider nichts Neues. So wurden mit den Magglingen-Protokollen 2020 Übergriffe im Kunstturnen bekannt, worauf der Bund Untersuchungen im Spitzensport einleitete und Massnahmen ergriff. Doch: Beim Tanz hat bisher niemand hingeschaut, da dieser nicht als Spitzensport gilt.

«Als Mann ist es viel einfacher» – Opernhaus-Balletttänzer erzählt

Video: watson/Aya Baalbaki

Der Wille durchzuhalten

Eine Frage bleibt: Warum haben sich die Tänzerinnen und Tänzer die Demütigungen und den psychischen Druck über so viele Jahre hinweg angetan? Cristina Baldasarre, ehemalige Spitzenathletin und heute Sportpsychologin, erklärt es so:

«Für viele ist es eine Ehre, an die Akademie aufgenommen zu werden. Würden sie sich für einen Ausstieg entscheiden, würde ihr grosser Traum platzen. Das sind unglaubliche Loyalitätskonflikte.»
Cristina baldasarre
Cristina Baldasarre kann nachvollziehen, wieso viele Tänzerinnen und Tänzer diesem enormen psychischen Druck standhalten wollen.Bild: https://www.die-sportpsychologen.de/cristina-baldasarre/

Viele Tänzerinnen und Tänzer seien zudem sehr jung, wenn sie ihre Ausbildung beginnen. Sie stünden noch mitten in ihrer Entwicklung. «Als Jugendliche ist man weiterhin von Erwachsenen abhängig, hat noch keine eigene Meinung und Persönlichkeit. Dann hält man sich an das, was die Lehrerinnen und Trainer anordnen», so Baldasarre. «Man denkt sich, wenn ich jetzt nur mehr abnehme, noch intensiver trainiere, dann sind alle wieder zufrieden. Aber so ist es ja nicht.» Zudem sei vielen bereits in jungen Jahren klar, dass man für diesen Werdegang viel in Kauf nehme. «In der Ballett- oder Kunstturnausbildung lernt man nie, auf den eigenen Körper zu hören. Man arbeitet stets gegen ihn.»

Gemäss Sportpsychologin Baldasarre brauche es einen Paradigmenwechsel, um solche Vorkommnisse, wie sie an der Tanzakademie Zürich und der ZHdK derzeit untersucht werden, zu verhindern. «Lehrer und Trainerinnen müssen lernen, mehr mit ihren Schützlingen zusammenzuarbeiten – und nicht gegen sie.» Zudem seien ständige Supervisionen der Vorgesetzten nötig, damit der Unterricht hinterfragt werde. «Es braucht aber allen voran eine neue Generation, die die gesamte Tanzausbildung umkrempelt.» (saw/ohe)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Rührende Geschichte: 11-jähriger tanzt im Regen Ballett und wird von Academy in New York entdeckt
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
32 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
insert_brain_here
03.06.2022 14:47registriert Oktober 2019
Ist - leider - bei Ballett ein altbekanntes Phänomen. Die Ausbilder wurden in ihrer Jugend selbst aufs übelste schickaniert und sind davon überzeugt nur deswegen erfolgreich zu sein, nennt sich Survivor Bias.
1086
Melden
Zum Kommentar
avatar
Who knows
03.06.2022 17:17registriert April 2019
Woah der Beitrag ist eingefahren. Ich war zwischen 11 und 14 mit Ballett in einer Sportklasse und trainierte ca. 16 Stunden die Woche. Bei uns war es genau gleich...
Diejenigen, die nach Beginn der Pubertät keine Bohnenstangen mehr waren, wurden immer mehr an den Rand geschoben, bis sie jede Woche 16 Stunden trainierten und nicht einmal angeschaut wurden. Ignoriert zu werden, war gegen Ende die schlimmste Strafe, denn es hiess, dass man in den Augen der Trainer*innen die Zeit für Kritik und Verbesserung nicht mehr wert war... Mit 14 schon eine schwer zu schluckende Pille...
620
Melden
Zum Kommentar
avatar
Baccaralette
03.06.2022 15:24registriert Oktober 2015
Nur die Harten kommen in den Garten.

Eine Mitschülerin von mir von Kindesbeinen an im Ballett - ich habe hautnah mitbekommen, wie ungesund sowas für den Körper ist.
533
Melden
Zum Kommentar
32
Edelweiss-Piloten fordern Airline erneut zu GAV-Verhandlungen auf

Nach dem Abbruch der Verhandlungen um einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) bei der Fluggesellschaft Edelweiss durch den Pilotenverband Aeropers fordern die Piloten Bewegung von der Airline-Spitze. Sie haben dazu am Freitag in einer symbolischen Aktion eine übergrosse Postkarte mit den Unterschriften der Piloten an Edelweiss-Chef Bernd Bauer geschickt.

Zur Story