Die ZEIT hat mit 13 ehemaligen Schülerinnen und Schülern gesprochen, welche zwischen 2007 und 2021 an der Tanzakademie Zürich (TaZ) unterrichtet wurden. Vier davon liessen sich mit Namen zitieren, neun wollten anonym bleiben, um ihre Karriere nicht zu gefährden oder weil sie ihre Krankheitsgeschichte nicht öffentlich machen wollen.
Die Erzählungen der 13 ehemaligen Schülerinnen und Schüler gleichen sich: An der Schule lag psychischer Missbrauch und Bodyshaming an der Tagesordnung. Um dies zu unterstreichen, zeigten einige Betroffene E-Mails der Schulleitung oder Tagebucheinträge.
An der Spitze der Tanzakademie Zürich stehen die ehemaligen Star-Tänzer Steffi Scherzer und Oliver Matz. Beide waren über Jahre hinweg an der Deutschen Staatsoper in Berlin tätig, wo sie als das Traumpaar des Berliner Balletts galten. Ausgebildet wurden beide im ehemaligen Ostberlin an der Staatlichen Ballettschule. 2005 kamen sie nach Zürich und gründeten die Tanzakademie Zürich. Matz ist bis heute für die Gesamtleitung, Scherzer für die künstlerische Leitung zuständig.
In den Erzählungen der ehemaligen Schülerinnen und Schüler tauchten beide immer wieder auf. Ausnahmslos alle Schülerinnen und Schüler, mit denen die «ZEIT» gesprochen hat, hätten vor Matz und Scherzer Angst gehabt. Doch nicht nur sie – auch andere Lehrpersonen werden erwähnt. Die «ZEIT» entschied sich jedoch dazu, diese nicht namentlich zu nennen. Damit soll darauf verwiesen werden, dass es sich nicht bloss um das Vergehen individueller Personen, sondern um ein System handle. Ein System, welches psychische Misshandlungen billige.
Die Vorwürfe der ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind happig. Besonders geblieben ist allen der extreme Fokus auf das Gewicht. Gewünscht sei ein kindlicher Körper, der keine Rundungen zeige. So wird das beim Übertritt ins Hauptstudium auch vertraglich festgehalten: Der Body-Mass-Index (BMI) der Jugendlichen soll zwischen 16 und 18 liegen, wobei gemäss Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation ein BMI von weniger als 18,5 als Untergewicht gilt.
Pauschal lässt sich damit zwar keine Verbindung zur Gesundheit herstellen. Denn der menschliche Körper ist dafür viel zu individuell. Dennoch: Ein BMI unter 17 gelte auch bei erwachsenen Profitänzerinnen als besorgniserregend, sagt Liane Simmel, Leiterin des Instituts für Tanzmedizin in München, gegenüber der «ZEIT». Die Wahrscheinlichkeit einer Essstörung sei bei einem BMI in diesem Bereich hoch, zudem könne er bei Tänzerinnen im Wachstum zu bleibenden Schäden führen.
Sportmedizinerin Nora Wieloch von der Universitätsklinik Balgrist teilt die Besorgnis und nannte die Menstruation als ein wichtiges Indiz für die Gesundheit. Bleibe diese mehr als sechs Monate aus, sei etwas nicht gut. Wenn man dann nicht reagiere, könne dies Auswirkungen auf das Immunsystem, das Herz-Kreislauf-System und die psychische Gesundheit haben. Besonders bemerkbar macht sich das Untergewicht auch in der Knochendichte, was zu Osteoporose und Ermüdungsbrüchen führen kann.
Wurden die Schülerinnen und Schüler dem Körperideal nicht gerecht, so bekamen sie dies von ihren Lehrpersonen sofort zu spüren. «Wenn jemand auch nur 200 Gramm zugenommen hatte, verkündete unsere Lehrerin dies vor der ganzen Klasse», erzählt Annaëlle Müller, welche von 2012 bis 2015 an der TaZ war.
Der Umgang war grob: Es wurde geschimpft, geschrien, gedemütigt. Der Druck führte bei vielen Betroffenen zu Depressionen und Essstörungen. Besonders offensichtlich sei dies im Internat gewesen. Wie Noa Reber, von 2009 bis 2012 Schülerin an der TaZ, erzählt, hätten sich nach dem Abendessen jeweils Warteschlangen vor den Toiletten gebildet: So viele Mädchen wollten sich nach dem Essen übergeben. Diesen Druck erlebte auch Jemima Rose Dean, welche aus Westaustralien für ein Stipendium an der TaZ in die Schweiz kam:
Auch bei Fehlern zeigten die Lehrpersonen keine Gnade. Jeden Tag sei den Schülerinnen und Schülern eingetrichtert worden, dass sie «absolut scheisse tanzen» und es niemals zu etwas bringen würden. Zudem habe es eine barre of shame gegeben – die Stange der Schande, die dazu bestimmt war, Schülerinnen und Schüler blosszustellen. Zu dieser etwas abseitsstehenden Stange wurden diejenigen Kinder geschickt, die nicht gut waren. Auch mit persönlichen Beleidigungen hielten sich die Lehrpersonen nicht zurück, erinnert sich Annaëlle Müller:
Die «ZEIT» hat die Leitung der TaZ um eine Stellungnahme gebeten, Matz und Scherzer wollten sich nicht dazu äussern. Die Direktorin für Darstellende Künste und Film an der ZHdK, Marijke Hoogenboom, bezog allerdings Stellung. Sie ist seit 2019 in dieser Funktion tätig und weiss, dass es schon vor ihrem Antritt zu Vorfällen gekommen sei, «bei denen sich Dozierende gegenüber Schüler:innen in Wortwahl, Ton oder Unterrichtspraxis unangemessen verhalten haben». Trotz Massnahmen habe sich die Lage anscheinend nicht verbessert, weshalb man weitere Massnahmen, Regularien und transparente Prozesse zur Qualitätssicherung eingeführt habe.
Der Rektor der ZHdK, Thomas D. Meier, hat umgehend reagiert. Nachdem er mit den Recherchen der «ZEIT» konfrontiert worden war, leitete er am 31. Mai eine Administrativuntersuchung ein. Ende Jahr sollen die ersten Ergebnisse bereitliegen. Bis dann will die ZHdK gemäss eigenen Angaben keine detaillierte Stellung beziehen.
Misshandlungen im Spitzensport sind leider nichts Neues. So wurden mit den Magglingen-Protokollen 2020 Übergriffe im Kunstturnen bekannt, worauf der Bund Untersuchungen im Spitzensport einleitete und Massnahmen ergriff. Doch: Beim Tanz hat bisher niemand hingeschaut, da dieser nicht als Spitzensport gilt.
Eine Frage bleibt: Warum haben sich die Tänzerinnen und Tänzer die Demütigungen und den psychischen Druck über so viele Jahre hinweg angetan? Cristina Baldasarre, ehemalige Spitzenathletin und heute Sportpsychologin, erklärt es so:
Viele Tänzerinnen und Tänzer seien zudem sehr jung, wenn sie ihre Ausbildung beginnen. Sie stünden noch mitten in ihrer Entwicklung. «Als Jugendliche ist man weiterhin von Erwachsenen abhängig, hat noch keine eigene Meinung und Persönlichkeit. Dann hält man sich an das, was die Lehrerinnen und Trainer anordnen», so Baldasarre. «Man denkt sich, wenn ich jetzt nur mehr abnehme, noch intensiver trainiere, dann sind alle wieder zufrieden. Aber so ist es ja nicht.» Zudem sei vielen bereits in jungen Jahren klar, dass man für diesen Werdegang viel in Kauf nehme. «In der Ballett- oder Kunstturnausbildung lernt man nie, auf den eigenen Körper zu hören. Man arbeitet stets gegen ihn.»
Gemäss Sportpsychologin Baldasarre brauche es einen Paradigmenwechsel, um solche Vorkommnisse, wie sie an der Tanzakademie Zürich und der ZHdK derzeit untersucht werden, zu verhindern. «Lehrer und Trainerinnen müssen lernen, mehr mit ihren Schützlingen zusammenzuarbeiten – und nicht gegen sie.» Zudem seien ständige Supervisionen der Vorgesetzten nötig, damit der Unterricht hinterfragt werde. «Es braucht aber allen voran eine neue Generation, die die gesamte Tanzausbildung umkrempelt.» (saw/ohe)
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Who knows
Diejenigen, die nach Beginn der Pubertät keine Bohnenstangen mehr waren, wurden immer mehr an den Rand geschoben, bis sie jede Woche 16 Stunden trainierten und nicht einmal angeschaut wurden. Ignoriert zu werden, war gegen Ende die schlimmste Strafe, denn es hiess, dass man in den Augen der Trainer*innen die Zeit für Kritik und Verbesserung nicht mehr wert war... Mit 14 schon eine schwer zu schluckende Pille...
Baccaralette
Eine Mitschülerin von mir von Kindesbeinen an im Ballett - ich habe hautnah mitbekommen, wie ungesund sowas für den Körper ist.