Die Autorin Anna Felder zählt zu den bedächtigen und dabei hochdekorierten Stimmen der Schweizer Literatur. Am Mittwochabend ist sie im Alter von 85 gestorben, wie ihr persönliches Umfeld eine Meldung von SRF Kultur gegenüber Keystone-SDA bestätigte.
Auf den ersten Blick mögen die Bücher von Anna Felder unscheinbar anmuten. In «La disdetta» (deutsch: «Auszug durch die Katzentüre») von 1974 beispielsweise berichtet sie von vier Menschen, die ihr Haus verlassen müssen. Doch erzählen lässt sie eine Katze, die gleich im ersten Satz zu bedenken gibt: «Sie hielten mich für eine Katze». Das schürt Skepsis und Irritation.
Am liebsten wandte sich die Autorin unscheinbaren Begebenheiten und Begegnungen zu. Aber ihre Prosa lässt die Lesenden immer wieder in die Falle falscher Erwartungen tappen. «Hinter dem Alltäglichen geschehen so viele unsichtbare Dinge, die geheimnisvoll sind, und die die Mühe lohnen, dass man sie untersucht und hinterfragt», sagte sie 2018 in einem Gespräch mit Keystone-SDA.
Trotz solcher Fallen und Tücken liest sich Anna Felders Prosa federleicht. Jedes Wort, jeder Satz klingt folgerichtig und begreifbar. Doch dann rückt ein unverschämter Konjunktiv, eine unerwartete Lücke oder eine tückische Verschiebung alles ein wenig aus dem Lot.
Derartige Eigenheiten deuten darauf hin, dass Felder die Arbeit am Schreibtisch bedächtig angegangen ist. «Ich schreibe sehr langsam, eine halbe Seite ist oft schon sehr viel an einem Tag», mit dem Effekt, dass das Geschriebene dann «beinahe schon definitiv ist», erzählte sie. Felder hinterlässt denn auch ein vergleichsweise schmales Werk: vier Romane, zahlreiche Erzählungen sowie einige Hörspiele und Theaterstücke.
Geboren wurde sie 1937 in Lugano, als Tochter eines Deutschschweizer Vaters und einer italienischen Mutter. In Zürich und Paris hat sie Romanistik studiert und sich nach der Promotion in Aarau niedergelassen. Dort hat sie an der Kantonsschule unterrichtet und jahrzehntelang gelebt, wobei sie bis ins hohe Alter immer wieder auch ins Tessin gereist ist.
In ihren Debütroman «Quasi Heimweh» lässt sie Erfahrungen aus ihrer ersten Zeit als Lehrerin einfliessen. Erschienen ist er Anfang der 1970er Jahren vor dem Hintergrund der fremdenfeindlichen Schwarzenbach-Initiative und ist somit von politischer Brisanz. Der Roman handelt von einer jungen Italienischlehrerin, die ihrem Bruder aus Italien in den Aargau folgt und dort in den Dörfern die Kinder italienischer Immigrantinnen und Immigranten mit der italienischen Sprache und Kultur vertraut machen soll.
Wie im Roman die junge Lehrerin ist auch die Autorin Felder zwischen den Sprachen Italienisch und Deutsch gependelt. Während draussen Deutsch gesprochen wurde, schrieb sie selber drinnen Italienisch. Dieses Pendeln sei ihr wichtig, sagte sie im Keystone-SDA-Gespräch, auch um kritische Distanz zur vertrauten Muttersprache zu gewinnen. Auf der einen Seite liebe sie deren «Klingen, die A, O und I», auf der anderen schätze sie die «schönen Komposita» im Deutschen, so Felder.
Sie schrieb eine Prosa mit den Mitteln der Poesie; Musikalität war dabei wichtig. «Das heisst, dass ich, bevor ich einen Satz auf dem Papier festhalten kann, einen eigenen Rhythmus treffen muss», erklärte sie. Klang und Rhythmus bekämen «in jedem Satz eine geradezu stoffliche Bedeutung».
Diese Sinnlichkeit ist in ihrem letzten Erzählband «Circolare» (2018) besonders gut zu spüren, dessen Originaltitel «Liquida» (2017) lautet. Die Sätze fliessen dahin und ziehen die Lesenden unwillkürlich mit hinein in ein Kreiseln.
Anna Felder ist eine berührende Erzählerin, die beim Erzählen nicht auf Sensationen, eher auf Sensibilitäten abzielt. Dafür erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. 2018 hat das Bundesamt für Kultur (BAK) ihr Lebenswerk mit dem Grand Prix Literatur, dem renommiertesten Schweizer Literaturpreis geehrt.
Doch die vielleicht grösste Ehre liess ihr bereits 1973 der italienische Autor Italo Calvino zuteil werden. Als Antwort auf das Manuskript von «La Disdetta»schrieb er ihr: «Man kann nicht hoffen, dass das Buch ein breites Publikum in seinen Bann ziehen wird, denn auf der Ebene der Geschichte geschieht fast nichts.» Wichtig sei etwas anderes: «Es hat jedoch einen Humor, einen kühlen Blick, den ich ausserordentlich schätze». Deshalb lohnt sich die Lektüre von Anna Felders Prosa über ihren Tod hinaus.
(hah/sda)