Patrick war eigentlich nie der typische Velo-Freak. Statt wie heute mit schulterlangen Haaren, Fahrradhosen und einer Sport-Sonnenbrille traf man ihn früher im Anzug an, mit nach hinten gegelten Haaren und gerne in schnellen Autos. Finanzberater-Vibes.
Er liebte seinen damaligen Job – und den dazugehörigen Lifestyle. «Ich hatte viel Spass in dieser Zeit und sah den Sinn meiner Tätigkeit darin, den Menschen aufzuzeigen, wie und wo sie Geld sparen können, um ihre Träume zu erfüllen.»
Doch je mehr er sich mit den Träumen und Zielen seiner Kundinnen und Kunden auseinandersetzte, desto mehr merkte der Zürcher, dass sein Leben nicht wirklich erfüllt war. Dass er orientierungslos war. Er sagt:
Patrick merkte, dass er etwas ändern musste, um wieder dieses Lebensgefühl zu bekommen, das er hatte, als er von der Fussball-Karriere träumte.
«Ich habe mich damit auseinandergesetzt, was ich wirklich will. Und zu diesem Zeitpunkt war es das Reisen. Abgesehen von Städtetrips in Europa und Ferien in Brasilien hatte ich noch nichts von der Welt gesehen. Und ich wollte schon mein Leben lang nach Japan. Das war immer meine Trauminsel.» Gleichzeitig wusste er, dass er «eine tägliche Challenge» braucht, um auch persönlich weiterzukommen. So kam er auf die Idee, mit dem Velo nach Japan zu fahren.
Ausgerechnet er, der davor nur einmal in der Schulzeit mit dem Velo von Hinwil ZH nach Tenero TI fuhr. «Ich wusste nichts über Velos, geschweige denn, wie man sie repariert oder einen Platten flickt. Aber ich dachte mir, dass es andere auch geschafft haben», erinnert sich Patrick. Der Entscheid war gefallen.
Im Frühjahr 2022 kündigte er schliesslich seinen Job und seine Wohnung. Und er verkaufte praktisch alle persönlichen Gegenstände, um im Juli ohne Altlasten seine abenteuerliche Reise starten zu können. Für rund 10’000 Franken kaufte er sich die nötige Ausrüstung und ein Velo, dem er den Namen Spirit gab. Weitere 10’000 Franken hatte er noch gespart, um sie unterwegs ausgeben zu können. Das war alles.
Am 17. Juli 2022 startete der damals 25-Jährige mit seinem Velo zu Hause bei seiner Mutter in Grüningen. Bereits am ersten Tag fuhr er 100 Kilometer bis nach Andermatt. «Der Anfang war katastrophal. Mit 60 Kilo Gepäck hatte ich zu viel Gewicht», sagt er. Doch kommt Zeit, kommt Rat: Je länger er unterwegs war, desto besser wusste er, wie er schneller vorankommen konnte. Gegen Ende seiner Reise fuhr er mit 20 Kilo weniger Gepäck und schaffte es, jeden Tag 130 Kilometer zu fahren.
Doch bis dahin war es ein steiniger Weg. Seine Route führte ihn über die Schweiz nach Italien, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Serbien, Kosovo, Mazedonien, Griechenland und die Türkei bis in den Irak. Dort nahm er zum ersten Mal ein Flugzeug. «Um von Erbil im Nordirak, der Hauptstadt des autonomen Kurdistan, nach Bagdad, der Hauptstadt des Irak, zu kommen, wurde mir dringend geraten, nicht mit dem Velo zu fahren. Weil auf der Strecke noch zu viele ISIS-Schläfer-Zellen seien», sagt er. Insgesamt musste er auf seiner zweijährigen Reise aus geografischen Gründen oder Sicherheitsgründen dreimal auf ein Flugzeug und dreimal auf eine Fähre ausweichen.
Die meiste Zeit aber fuhr er mit dem Velo. Und dabei erlebte er ein Highlight nach dem anderen. «Ich wurde überall so gut behandelt. Fast täglich wurde mir Essen oder eine Unterkunft angeboten, ob im Nahen Osten oder in Asien. Und ich war ständig geflasht von der Szenerie, die sich mir bot, wie etwa die Aussicht auf den Himalaja in Pakistan», sagt er.
Jeden Tag trat er aber nicht in die Pedale, sondern manchmal blieb er auch ein paar Tage oder Wochen an einem Ort und trainierte Brazilian Jiu-Jitsu. «Mein Ziel war es, während der ganzen Reise an verschiedenen Kampfsportschulen zu trainieren und Unterricht zu geben», sagt Patrick. Jiu-Jitsu wurde nach dem Fussball-Aus zu seiner grossen Leidenschaft. Bei einer Reise nach Brasilien im Jahr 2020 besuchte er eine Jiu-Jitsu-Schule, die Kindern aus ärmlichen Verhältnissen eine neue Perspektive gibt.
«Wenn man als Kind in den Favelas aufwächst, ist die Chance gross, in illegale Geschäfte oder Gangs abzurutschen. Doch in der Kampfsportschule lernen sie Disziplin, wie sie gegen den inneren Schweinehund ankämpfen und wie sie aus eigener Kraft etwas aufbauen können. Das wollte ich unterstützen», sagt er. Während seiner gesamten Reise von der Schweiz nach Japan machte Patrick deshalb auf Instagram immer wieder Werbung für das Hilfsprojekt. Die Spenden flossen jeweils direkt nach Brasilien.
Patrick selbst lebte sparsam während seiner Reise. Er schlief oft im eigenen Zelt oder bei Menschen, die er unterwegs kennenlernte. Etwas Geld verdiente er anfänglich noch durch Dropshipping. Und teilweise schickten ihm Freunde und Familie einen Zustupf, weil sie Freude daran hatten, dass er seinen Plan so kompromisslos durchzog. Sogar, nachdem er einen heftigen Unfall in Indien hatte – der Tiefpunkt seiner Reise.
«Als ich die Augen öffnete, lag ich irgendwo in Indien am Strassenrand», sagt Patrick Letica über den schlimmsten Moment seiner Veloreise vom Zürcher Oberland nach Japan. Er stand an jenem Tag während der Morgendämmerung auf, um vor 6 Uhr mit seinem Velo losfahren zu können. Nur noch etwa 70 Kilometer trennten ihn von seiner Unterkunft in Indien bis zur Landesgrenze Nepals. Ein Meilenstein: Seit seinem Start in Grünigen im Kanton Zürich war auf den Tag genau ein Jahr vergangen. Rund 9800 Kilometer hatte Patrick bereits mit seinem Velo zurückgelegt, bevor der Unfall passierte.
Um 6.30 Uhr wachte er am Strassenrand in der indischen Pampa wieder auf. Sein Velo lag kaputt neben ihm. Um ihn herum standen über 15 Schaulustige, die kein Wort Englisch sprechen konnten. «Ich wusste nicht mehr, was passiert war. Und ich war irgendwie eine Sehenswürdigkeit, denn es versammelten sich immer mehr Menschen um mich», sagt Patrick. Irgendwann habe man den Englischlehrer des Dorfes geholt. Dieser habe ihn ins Spital gefahren. Diagnose: eine Gehirnerschütterung. Sein Velohelm hatte Schlimmeres verhindert.
Patrick wusste es in diesem Moment nicht, aber es sollte ein halbes Jahr vergehen, bis er wieder in die Pedalen treten würde. Ans Aufgeben und an eine Rückkehr in die Schweiz habe er trotzdem nie gedacht. «Ich hatte zu lange auf dieses Ziel hingearbeitet und in der Schweiz hatte ich nichts mehr.» Es gab nur ein Problem.
Patricks Velo Spirit ging durch den Unfall kaputt. Für den restlichen Weg von der Grenze Indiens bis nach Kathmandu in Nepal nahm er deshalb den Bus. Dort angekommen, erholte er sich zuerst einen Monat lang von der Gehirnerschütterung. Schliesslich entschied er sich, nach Bangkok, Thailand, zu fliegen. Den beschädigten Spirit schickte er als Luftfracht voraus. Die Fahrt mit einem Velo von Nepal nach Thailand wäre sowieso nicht möglich gewesen – wegen der geschlossenen Grenzen von Bangladesch nach Myanmar. Auch das EDA rät von Reisen in das Land ab.
In Thailand dauerten die Abklärungen, Velo-Ersatzteile aus Europa zu liefern, lange. Erst nach ein paar Monaten erhielt er den definitiven Bescheid: Eine Reparatur wäre einiges teurer als ein neues Velo. Er kaufte sich schliesslich ein neues und taufte es Bushido. Aber nicht wegen dem Deutsch-Rapper, von dem der Zürcher nur etwa zwei Lieder kennt. Sondern: «Ich wollte dem Velo einen japanischen Namen geben als Inspiration. Und Bushido bedeutet ‹Weg des Kriegers.›» Mit Bushido hatte er die Kraft, die Veloreise weiterzumachen. Von Thailand nach Kambodscha, Vietnam, Macau, Hongkong, China, Südkorea und schlussendlich Japan.
Etwa 6800 Kilometer hat Patrick mit seinem zweiten Fahrrad zurückgelegt, bis er diese Woche in Japan (mit der Fähre) angekommen ist.
16’125 Kilometer fuhr er insgesamt vom Zürcher Oberland bis nach Japan. In seinen zwei Jahren unterwegs sass er zwar nur an 164 Tagen auf dem Velo, machte aber im Schnitt etwa 98,3 Kilometer pro Tag. «Als ich in Japan ankam, war ich sprachlos. Es war unfassbar zu realisieren, dass ich dieses Ziel, von dem ich fünf Jahre lang geträumt hatte, endlich geschafft hatte. Ein Gefühl hat sich sofort in mir breitgemacht: Ich bin unglaublich stolz auf mich, dass ich es durchgezogen habe», sagt Patrick. Und damit ist sein grösstes Abenteuer des Lebens vorbei?
Patrick winkt ab. Im Anzug und mit gegelten Haaren wird man ihn vermutlich nie wieder sehen. «Die nächsten sechs Monate werde ich in Japan bleiben, um das Land zu entdecken, mein Japanisch zu verbessern und um Jiu-Jitsu zu trainieren», sagt er. Den höchsten Berg Japans, den Vulkan Fuji, möchte er erklimmen. Und auch mit seinem Velo will er nochmals etwa 3000 Kilometer auf dem Inselstaat zurücklegen.
Für die Zeit danach sei alles offen. Ein Buch über seine Veloreise könne er sich vorstellen. Oder darüber, wie man sich mental auf so etwas vorbereitet und es durchzieht. Vielleicht auch etwas mit Jiu-Jitsu. Aber eines weiss Patrick sicher: «Es wird sicher nicht mein letztes Abenteuer mit dem Velo gewesen sein. Die Welt ist gross.» Ein typischer Velo-Freak?
Mich beeindruckt die Gastfreunschaft, die Patrick überall erfahren hat. Ich finds cool, wie er seinen Traum durchgezogen hat.
Wo ich aber, nur als kleine Anmerkung, mehr Zeit investiert hätte, ist die Routenplanung. Da hätte man doch ein bisschen akribischer vorgehen können.
Denke, das Hamsterrad ist jetzt für ihn keine Option mehr.