Der Bahnhof Stadelhofen in Zürich ist zum Mekka von Jugendlichen und jungen Erwachsenen geworden. Spätabends, besonders am Freitag und am Samstag, treffen sie sich hier. Das zieht auch Influencer und Tiktoker an: Sie drehen Videos für ihren Social Media Kanal und bewirtschaften ihre «Fan-Base».
Joung Gustav gehört zu den absoluten Stars der sogenannten «Stadi Szene». Seit Oktober komme er regelmässig am Wochenende an den Stadelhofen um Interviews für seinen Tiktok-Kanal zu drehen. «Der Vibe dieser Szene ist sehr positiv», sagt Joung Gustav. «Es hat extrem viele Leute und Polizisten heute Abend und trotzdem sind alle friedlich.»
Wiederholt grätschen Jugendliche ins Gespräch, die mit Joung Gustav ein Selfie oder Video aufnehmen wollen. Er vertröstet sie. Heute Abend sei er nicht hier, um Videos für seinen Kanal zu drehen, sondern um mit seinem Influencer-Freund Zeki «vorbeizuschauen». Seine Fans macht er auch damit glücklich.
Am Samstagabend ist Hochbetrieb am Bahnhof Stadelhofen. Die einen warten auf den nächsten Zug, der den Rest der Clique bringen soll. Andere steuern direkt Richtung See. Der Hotspot ist die Promenade.
Die Teenager tragen goldige Kreolen, silbrige Halsketten, Kapuzenpullover, weisse Sneakers. Einige Hände umfassen Bier- oder Vodka-Flaschen, andere die braunen Papiertüten vom McDonald's.
Auch die Polizei ist in Vollmontur präsent. Mit insgesamt neun Kastenwagen haben sie sich beim Bahnhof, Opernhaus und der Seepromenade aufgestellt. Die Beamten tragen schwarze Helme und Schutzausrüstung, einzelne halten das Gummischrot-Gewehr vor der Brust, andere das runde Abwehrschild.
Die Präsenz der Gesetzeshüter scheint nichts an der Sorglosigkeit der Jugendlichen zu ändern. Das Stimmen- und Musikwirrwarr zieht sich der Promenade entlang. Der Weg ist belegt mit Teenagern. Sie reden, lachen und tanzen zum Trap oder Reggaeton, der aus ihren Boom-Boxen dröhnt. Am Boden und auf den Bänken stehen Flaschen mit Smirnoff-Vodka, Orangensaft oder Bier.
Mitten im Geschehen ist Zakaria. Er ist schon seit mehreren Stunden hier. «Ich will Spass haben und mit meinen Kollegen Zeit verbringen», sagt er unter der schwarzen Schutzmaske. Letztes Jahr wurde er 18. Doch in den Club würde er trotzdem nicht: «Meine Mutter lässt mich nicht in den Ausgang, ich muss um 1 Uhr zuhause sein. Also wäre ich sowieso hier, auch wenn nicht Corona wäre.»
Anders sieht das Julida. Sie vermisst es, in den Club zu gehen. Dass es momentan aus epidemiologischer Sicht nicht die beste Idee ist, sich unter viele Menschen zu mischen, weiss sie. «Aber eigentlich wäre es doch besser, die Clubs zu öffnen und die Leute in kontrollierten Mengen hereinzulassen als dass sie wie hier am Stadi so aufeinandersitzen.»
Sie brauche den Freiraum, deshalb komme sie hierher. Julida ist die einzige in ihrer Fünfer-Gruppe, die 18 Jahre alt ist. Doch alle stimmen ihr nickend zu, als sie sagt: «Ich muss auch mal raus. Was soll ich am Wochenende auch noch zuhause sitzen mit meiner Mutter, die mich 24/7 anschreit?»
Die drei sind sich einig: «Corona schisst a», sagen Julida, Zakaria und Pascal unabhängig voneinander. Auch wenn die «Stadi Szene» kein optimaler Ort ist, um während der Pandemie einen Samstagabend zu verbringen. Viele tragen die Maske nicht richtig oder gar nicht, stehen in grossen Gruppen zusammen, halten den Mindestabstand nicht ein.
Die Polizei lässt das mehrheitlich gewähren, kontrolliert vereinzelt Personen, und beobachtet die Situation. Vor dem Opernhaus kommt es kurz zu einem Gerangel: Ein Mann, der neben drei anderen mit dem Gesicht zur Wand steht und von Beamten abgesucht wird, dreht sich plötzlich ab und rennt davon. Ein Polizist stösst ihn zu Boden und legt ihm die Handschellen an.
Zakaria und Pascal finden, dass die Polizei mit ihren «harschen Kontrollen» übertreiben würden. Gleichzeitig geben sie zu, dass sich viele Jugendliche in der «Stadi Szene» nicht an die Regeln halten würden. «Aber ganz ehrlich, die Erwachsenen machen das genau so wenig im privaten Umkreis. Bei ihnen ist es einfach weniger sichtbar», sagt Pascal.
Tiktoker Joung Gustav versteht beide Seiten: «Klar, die Jungen sollten zuhause bleiben. Aber gleichzeitig hält der Lockdown schon bald ein Jahr lang an und die Jungen wollen endlich wieder raus.»
Der Abend vergeht. Kurz vor Mitternacht pilgern die Jugendlichen von der Promenade zum Bahnhof zurück. Bald fahren die letzten Züge, um nach Hause zu kommen. Viele sind noch aufgedreht und in Feierlaune, trotz der Corona-Müdigkeit.
Och versteh die Jungen. Ist echt ne scheiss Situation, für alle.