Als ich kurz nach neun das TV-Gerät einschalte, sehe ich als Erstes Thomas Müllers Faust in der Luft. Er hat soeben das 1:0 für Deutschland gegen Frankreich erzielt. Mit weit aufgerissenen Augen und dem nach vorn geschobenen Unterkiefer sieht er aus wie ein Piranha, der Blut geleckt hat.
Es gibt fast nichts Aufregenderes, als einer kaputten deutschen Mannschaft bei der Auferstehung zuzusehen. Das ist so wie in den alten Action-Filmen, wenn der Bösewicht nach dem Showdown geschlagen im Staub liegt, sich dann aber doch noch einmal aufrappelt – um komplett zerfetzt und entstellt noch mächtigere Gegenwehr zu leisten. Es ist Dramatik pur.
Mit zunehmendem Alter häufen sich aber die Abende, an denen mir derlei Aufregung zu viel wird. Bis zum Wochenende dauert es noch drei Arbeitstage, die Kräfte müssen eingeteilt werden. Und gestern, da war mir einfach nach seichter Unterhaltung. Nach etwas, was vor sich hin plätschert, mich mitnimmt, aber trotzdem nicht anstrengt. Konkret: auf Schweiz gegen Andorra.
Als ich umschalte, lande ich mitten in einem minutenlangen Ballgeschiebe. Entschleunigung pur. Ich will es nicht als sportliche Glanzleistung schönschreiben, aber Seelenbalsam war es trotzdem. Jeder Querpass wie eine kleine Massage. Ich bin fast schon froh, dass sich kein Schweizer in einen Zweikampf wagt. Das wäre der Aufregung zu viel. Wenn Sascha Ruefer jetzt noch flüstern würde, wäre die ASMR-Erfahrung perfekt.
Natürlich ist das paradox. Der Fussball ist beliebt, weil er mitreisst und die Emotionen hochkochen lässt. Doch der Fussball ist wie das Leben: Langeweile ist verpönt – und doch die Regel. Und noch eine Parallele: Nur wer sich der Gier nach immer mehr Sensation erwehren kann, wird die Schönheit im Einfachen entdecken.
Damit soll nun gut sein mit den Zuckerbeutel-Weisheiten, denn kurz vor der Halbzeitpause trifft doch noch einer ins Schwarze: Es ist Sascha Ruefer mit einem Witz. Ich lache ein bisschen. Auch der Kommentator erkennt die Qualität seines Spruchs, entscheidet sich aber dafür, mit sämtlichen Regeln der Komik zu brechen und den Spruch zu wiederholen – mitsamt Erklärung. Ach, Sascha. Auch auf dich ist Verlass.
Halbzeit.
Salzgeber und Huggel stehen da wie zwei Detektive in einem Krimi, die in der Hälfte des Films noch komplett im Dunkeln tappen. Tapfer analysieren sie trotzdem. Die Tonalität ist perfekt – ein Balanceakt aus Resignation und Durchhalteparole. Der Gang, der höher geschaltet werden muss, wird auch erwähnt. Das Erwartete zu bestätigen, ist Teil der Heimatgefühlsbildung.
Für den höheren Gang sorgt etwas später dann Itten. Mit seinen halblangen Haaren und dem Gummiband sieht er aus, wie wenn sich ein Kunststudent an einer Sergio-Ramos-Büste versucht hätte, kurz vor Vollendung aber zum Mittagessen gerufen wurde. Das ist kein Spott – ich mag Itten. Dank seines Tores schreiben Schweizer Tunnels endlich wieder positive Schlagzeilen.
Freut mich dieses 1:0? Momoll. Bin ich deswegen aus dem Häuschen? Keineswegs. Bin ich erleichtert? Nicht einmal das.
Das Tor ist ein kleiner Seelenpleaser. Ich habe nie daran gezweifelt, dass es fällt. Es ist einfach nur die logische Folge der Entwicklung der Schweizer Nati der letzten Jahrzehnte. Das stete Gefühl der Unsicherheit, welches die Nati vor der Jahrtausendwende in mir noch auslöste, ist längst einer reifen Zuversicht gewichen. Und der stoische Auftritt in Sitten bestätigt diese nur noch.
In der Phase des Spiels habe ich mich bereits auf das Ende des Sofas zurückgezogen. Seit einiger Zeit trage ich eine Gleitsichtbrille. Eigentlich eine wunderbare Sache. Doch einen kleinen Abstrich gibt es: Meine angestammte Kopfhaltung vor dem Fernseher funktioniert nicht mehr. Den Rest des Spiels sehe ich deshalb nur noch unscharf. Der Sache tut das allerdings keinen Abbruch. Die Andorraner konnte ich fast nie unterscheiden. Ausser Cucu. Der sieht auch unscharf aus wie David Schwimmer.
Dann legt Xhaka zum 2:0 nach. Der vermeintliche Hitzkopf schiebt äusserst kühl und überlegt ein. Ich glaube ja, dass Xhakas Gefühlsausbrüche reines Kalkül sind, um den Schnarchnasen im Team bisschen Feuer zu machen. Ein Indiz für diese Theorie ist Akanjis Einsatz nach einem Rüpelfoul an Ndoye. Wie ein Schienenräumer fährt er in die Andorraner. Der so clevere wie berechnende Manchester-City-Star zieht damit am selben Strick wie der Kapitän. Und tatsächlich geht der vielzitierte Ruck durch die Mannschaft.
Ich mag Akanji, und ich mag Xhaka – und bin ein wenig stolz. Das sind gute Jungs. Auch Vargas, das Feierabendbier unter den Fussballspielern: ein bisschen prickelnd, aber leider auch ohne viel Effekt. Oder dann der Okafor, was für eine Maschine. Freuler, unspektakulär, aber verlässlich – genau mein Typ. Väterliche Gefühle empfinde ich für fast alle Natispieler.
Es giesst nun in Strömen in Sitten. Andorras Trainer nutzt die Gelegenheit, um der Welt zu zeigen, mit welcher Hingabe er für sein Team arbeitet. Und wie könnte man das besser, als sich selbst-, aber auch nutzlos in den Regen zu stellen?
In dem Moment, als ich denke, dass man bei der Nässe auch mal aus der Distanz schiessen könnte, hält Rodriguez drauf. Der Mann mit dem Signature-Rossschwanz ist nur wenige hundert Meter von meinem Wohnort entfernt aufgewachsen und hat eine Riesenkarriere hingelegt. Mittlerweile ist er weg-, ich bin dorthin gezogen. Viele Jahre und viele seiner Millionen später kreuzen sich nun unsere Gedanken. Natürlich verfehlt er das Ziel, dafür trifft Shaqiri wenig später. Dreinull.
Es ist das perfekte Resultat. Ab vier Toren hätte man bereits wieder von einem Feuerwerk sprechen, überschwänglich werden müssen. Zwei oder weniger Tore hätten zu erneuten Diskussionen geführt. Dreinull aber trifft mitten in die Wohlfühlzone. Dieses Resultat benötigt keine Analyse. Man kann es diskussionslos abhaken – oder einfach auch einmal loben. Dieses Spiel verhalf mir zu einem perfekten Abend. Keine unnötige Aufregung, aber dennoch etwas Unterhaltung. Genau so, wie ich mir das je länger je mehr wünsche. Genau so, dass ich nachher wunderbar schlafen kann.
Zum Spiel: Bis endlich das 1:0 fiel, war ich leider nicht ganz so entspannt wie du. Die letzten beiden Spiele haben Spuren hinterlassen..