In meiner Kindheit und Jugend lernte ich so viel über Amerika und seine Geschichte wie über kein anderes Land. Über das Leben einer Farmerfamilie in «Unsere kleine Farm». Über das Leben auf einer Ranch in «Bonanza». Über das Leben einer Öl-Dynastie in «Dallas». Und über Winnetou. Wobei der eine deutsche Erfindung war. Doch Amerika mit seinen Kämpfernaturen bestimmte den grösseren Teil meines televisionären Weltbilds.
Der kleinere Teil war deutsch. Das deutsche Fernsehen liebte in eiserner Nachkriegsmanier den versehrten, erholungsbedürftigen Menschen. Der deutsche Mensch wurde in Krimis drangsaliert, von Ärzten operiert und durfte sich zur Belohnung auf Kreuzfahrten erholen. Aus der Schweiz kam so gut wie keine Fiktion. Die Schweiz versorgte uns mit Informationen, nicht mit Visionen.
Heute explodiert die Welt in unsere Wohnzimmer hinein und das ist sehr gut so. Viele setzten sich dank «Squid Game» zum ersten Mal mit der wirtschaftlichen Situation Südkoreas auseinander. Serien aus Dänemark, Schweden, Island, der Türkei, Spanien, Italien, Frankreich rückten plötzlich in den Mittelpunkt unserer Sehgewohnheiten. Oder der blöde polnische «Fifty Shades»-Abklatsch «365 Days», sowas natürlich auch. Netflix dreht «Emily in Paris» mit viel französischer Beteiligung in Paris. Netflix, Amazon Prime und Sky stärken den Serien- und Filmstandort Deutschland massiv. Aber mit dem Studio Babelsberg hat dieses auch sowas wie das europäische Hollywood zur Verfügung.
Und die Schweiz? Was hat sie zu bieten? International gefragte Einzeltalente. Eine Regisseurin wie Lisa Brühlmann, die mit ihrem Spielfilm «Blue My Mind» als Visitenkarte spielend den Einstieg in die amerikanische Serienmaschinerie geschafft hat und auch bereits für einen Emmy nominiert wurde. Die Schauspielerin Luna Wedler, die – ebenfalls dank «Blue My Mind» – in Deutschland zum Superstar geworden ist. Ella Rumpf, die mit einer kleinen Rolle in «Succession» eingestiegen ist. Carla Juri, die mit Regisseuren wie Denis Villeneuve und Peter Greenaway arbeitet. Oder Bond-Regisseur Marc Forster, der in Hollywood gerade mehrere Filme mit Stars wie Tom Hanks, Gillian Anderson, Helen Mirren und Ewan McGregor in Arbeit hat. Wir sind gut im Exportieren. Von Fachkräften. Nicht von Produkten.
Und was ist eigentlich mit der Schweiz als Drehort grosser internationaler Produktionen? Herzlich wenig. Entweder spielt etwas in Zürich wie einst der Anfang von «The Bourne Identity», muss aber in Prag gedreht werden, weil Zürich zu teuer ist. Oder wir zehren seit Jahrzehnten davon, dass James Bond in «On Her Majesty's Secret Service» das Schilthorn runterbrauste. Dass es der Berner Bahnhof trotz einer Szene in «Nachtzug nach Lissabon» nicht wirklich zum Tourismus-Liebling geschafft hat, ist verständlich. Und irgendwie sind aus den Dreharbeiten diverser Bollywood-Filme keine Synergien mit der hiesigen Filmbranche entstanden.
Dabei wäre genau dies das Ziel: Die Schweiz selbstbewusst mit der Welt zu vernetzen. Sie auf der Streaming-Weltkarte der grossen Player genauso zu verorten wie das vergleichbar kleine Dänemark. Es geht nicht darum, dass die Schweiz dank der Abgaben von Netflix, wie sie in anderen Ländern längst institutionalisiert sind, das einheimische Filmschaffen für Einheimische stärkt. Das wäre ja langweilig. Soooo aufregend ist die Schweizer Filmszene ja nun eher, na ja, selten.
Wobei wir an dieser Stelle auch mal deutlich sagen müssen: Man betrachtet nichts so kritisch wie das Einheimische. Und was wir aus anderen Ländern auf Netflix und anderswo serviert kriegen, entspricht auch nur einem winzigen, vorzeigbaren Bruchteil des dortigen Filmschaffens.
Es geht nicht darum, die Welt der Streaming-Portale zu verschweizern, sondern darum, der Schweizer Film- und Serienproduktion den Anschluss zu sichern, damit sie ebenfalls zum Player wird. Der Netflix-Batzen würde bei Netflix automatisch auch ein steigendes Interesse, eine Neugier und eine Erwartungshaltung an die Schweiz erzeugen. Die hiesige Filmbranche wäre in einer Bringschuld.
Wäre es nicht fantastisch, wenn die Schweiz in Zukunft in der globalisierten Streaming-Kultur mitmischen könnte? Wenn sie für ausländische Produzenten attraktiver wäre? Wenn sich eine Schweizer, eine isländische und eine finnische Drehbuchautorin gemeinsam in einem Writers Room für den nächsten Walliser Gletscherkrimi fänden? Wenn es «Dorothy in Geneva» oder «Lily in Gstaad» gäbe mit einem international durchmischten Cast? Wenn ein «Succession»-Remake mit einem fiktionalisierten Blocher-Clan zustande käme? Und wenn Leute wie Marc Forster und Lisa Brühlmann Lust bekämen, mal wieder was zuhause zu drehen, vielleicht ja gar mit ein paar der Hollywoodstars, die sie in ihren Wanderjahren unterwegs aufgelesen haben? Und eventuell liesse sich statt des nächsten Google-Quartiers mal ein Schweizer Babelsberg errichten?
Es ist nicht undenkbar, dass aus der Schweiz einmal ein Serien-Trend kommt wie der «Scandi Noir» vor Jahren aus Dänemark. Oder dass einmal ein Kind in Thailand oder Schottland von der Schweiz soviel zu wissen glaubt, wie ich als Kind von Amerika. Und nicht nur wegen «Heidi».
Aber dafür braucht die Schweiz mehr als auf jedem anderen Gebiet Entwicklungshilfe. Sonst verschwindet sie in der Bedeutungslosigkeit. In jenem Netflix-Orkus, wo sich alibihalber ein paar Schweizer Produktionen tummeln, die jedoch vom Empfehlungsalgorithmus ignoriert werden. Das nützt niemandem.
Nur gibt es das bisher fast nicht. Das einzige was Lex Netflix bringt sind dem Endkunden wieder mehr Kosten ohne dass der Inhalt erwünscht ist. Wäre der Inhalt nämlich erwünscht hätte Netflix dies schon lange ins Programm aufgenommen und würde sich so selbst finanzieren.
Aussertdem muss die Schweiz in jeder achso fragwürdigen Branche global mitmischen, obwohl weder Nachfrage besteht, noch die Qualität des Angebot stimmt. Ist es nicht schön, dass die Schweiz nicht überall Topexporteur ist?