Vor dem Fenster weiden Schafe. Das erwartet man nun mitten in Zürich, in der Nähe vom Bahnhof Enge, zuletzt. Aber vor dem Fester von Festivaldirektor Christian Jungen drängen sich gut zwanzig Schafe im Schatten. Bei Sitzungen blöken sie auch schon mal dazwischen. Drinnen wird das 17. Zurich Film Festival vorbereitet.
Seine letztjährige Ausgabe fand mitten im Corona-Jahr 2020 als einer der wenigen kulturellen Grossanlässe überhaupt physisch statt. Die Gefahr, dass sich das ZFF zu seinem Ende hin als Superspreader-Event entpuppen könnte, war gegeben. Doch alles lief gut. Kein einziger Covid-Fall überschattete das Festival. Johnny Depp gewann ein paar Herzen zurück, Juliette Binoche glühte vor Begeisterung über die wenigen Tage Beinahe-Normalität, im Kino fühlten wir uns sicher, die Durchführung war wohltuend souverän. Kurz darauf kam es zum neuerlichen Shutdown. Es war Jungens erstes Jahr als Direktor. Es hätte genauso gut sein letztes sein können. Für die Ausgabe 2021 haben er und sein Team einen Coup gelandet: Am 28. September ab 21 Uhr wird «No Time to Die», der sehnlichst erwartete neue Bond, im Zürcher Kongresshaus zu sehen sein. Zeitgleich mit der Weltpremiere in London. Das gab's noch nie.
Beginnen wir mit Bond. Ihr habt es geschafft, die Kontinentalpremiere von «No Time to Die» an Land zu ziehen. Wie hast du das Wochenende nach der Verkündigung eures Coups verbracht? Gab's schon heimliche Ticketvorbestellungen?
Wir hätten Tausende von Tickets loswerden können! Da gab's Politiker, die am Sonntagnachmittag anriefen, weil sie gern ein Ticket ergattert hätten. Es handelt sich ja nicht bloss um den am heissesten erwarteten Film des Jahres, sondern gleich mehrerer Jahre. «No Time to Die» wurde fünf Male verschoben, jetzt ist er schon fast mythisch aufgeladen.
Auf diesem Bond lastet sowas wie der ganze Druck der Hoffnung. Darauf, dass die Leute die Kinos in diesem Herbst endlich wieder stürmen.
Viele waren seit Jahren nicht mehr im Kino, aber den neuen Bond schauen sie sich an. Ich rechne damit, dass er in der Schweiz über eine Million Zuschauerinnen und Zuschauer haben wird. Und alle haben ihren Lieblingsbond: Für mich war's definitiv Sean Connery. Mein erster Bond war «Dr. No» oder «Goldfinger», einer von denen, die ich mit meinem Vater zusammen am Sonntagabend schaute. Ich habe Bondfilme nicht im Kino entdeckt, sondern am Fernseher.
Das war bei mir genauso. Bondfilme waren Vaterfilme. Ich fand allerdings Roger Moore attraktiver.
Ehrlich? Sean Connery war natürlich schon der Macho-Bond schlechthin. Daniel Craig mit seinem optimierten Körper passt wiederum total in die Nuller- und Zehnerjahre, wo alle immer ihre Muskeln prall trainieren müssen, damit die vielen Tattoos noch gut aussehen. Jeder Bond ist ein Abbild seines Zeitgeists. Und «No Time to Die» ist zweifellos der grösste Film in der Geschichte des ZFFs. Aber es waren toughe Verhandlungen, bis wir den Film hatten, sie dauerten fast fünf Monate lang.
War das eigentlich teuer?
Ja. Dieses Investment wird sich am Festival nicht amortisieren, auch wenn wir den Film im neu renovierten Kongresshaus zeigen und mehrere tausend Zuschauer haben werden. Da geht es um ein Investment in die internationale Strahlkraft, in die Zukunft. Dass Bond, ein Film, der kein Festival der Welt als Plattform nötig hat, bei uns parallel zur Weltpremiere in London gezeigt wird, dürfte es für uns leichter machen, auch künftig an die grössten Filme zu kommen.
Nun ist klar, dass niemand von der Bond-Crew nach Zürich kommt, weil zeitgleich die Weltpremiere in London stattfindet. Aber auch von Wes Andersons «The French Dispatch» kommt niemand. Und Kristen Stewart, die in Venedig gerade mit dem Diana-Drama «Spencer» einen Riesenerfolg feierte, kommt nicht. Beide Filme habt ihr im Programm. Aber es ist euch gelungen, Sharon Stone einzuladen. Euer Lieblings-Stone heisst sonst ja eher Oliver.
Sharon Stone ist grossartig! Seit ich als jeune homme mit erhöhtem Puls «Basic Instinct» sah, ist sie für mich ein Idol. Damals hat man sie natürlich auf die Sexbombe reduziert, dabei hat sie viel mehr Facetten. Und sie hat einen der höchsten IQs, sie ist blitzgescheit! Und sie ist in einer Zeit zu einem weiblichen Superstar geworden, als Hollywood von Männern dominiert war. Von Stallone, Schwarzenegger, Bruce Willis.
War da nicht auch Julia Roberts?
Genau, die beiden waren die weiblichen Superstars. Und Sharon Stone gebärdete sich nicht nur auf der Leinwand als Femme fatale, sondern auch in Hollywood, setzte sich für gleiche Bezahlung für Frauen und Männer ein und war für viele junge Frauen ein Role Model. Sie wehrte sich und führte Prozesse und diese Kämpferinnennatur gefällt mir ebenfalls sehr. Wir verleihen ihr einen Preis namens Golden Icon, den kann man, böse gesagt, nicht einem Josh Brolin geben. Der muss schon an eine Ikone gehen. Das ist sie.
Dürfen wir auf Benedict Cumberbatch hoffen? Der ist ja mit zwei Filmen präsent, Jane Campions vielgelobtem Western «The Power of the Dog» und dem vielgescholtenen Künstler-Biopic «The Electric Life of Louis Wain».
Bei Cumberbatch warten wir noch auf die Antwort, ob er kommen kann. Ebenfalls bei Kate Hudson. Es ist sowieso noch wahnsinnig viel offen wegen der Covid-Situation, die hilft uns wirklich nicht. Es geht nicht nur darum, dass die USA die Schweiz zum Hochrisikogebiet erklärt haben. Viele konnten lange nicht drehen, und jetzt legen alle wieder los. Und kein Produzent wird seine Stars kurz an ein Festival in einem Land fliegen lassen, wo sie sich theoretisch mit Covid anstecken könnten. Aber wir haben schon gute Namen! Todd Haynes, Paolo Sorrentino, Paul Schrader, das find ich ebenso cool wie grosse Schauspielnamen.
Okay, bei Paul Schrader sag ich jetzt mal provozierend: alter weisser Mann. Zuletzt hab ich von ihm «The Canyons» gesehen, in dem es vor allem darum ging, Lindsay Lohan auszuziehen.
Paul Schrader ist mega spannend! Er ist in einer christlichen Freikirche aufgewachsen, und die Mutter stach ihm mit einer Nadel in den Daumen, damit er Schmerzen spüre, wie man sie habe, wenn man in der Hölle schmore. Auf diese Weise wollte sie ihn zu einem tugendhaften Leben ermutigen.
Gut, das hat dann wohl nichts genützt.
Und in all seinen Filmen geht es um diese Antihelden, die sich nach Erlösung sehnen. Der hat schon was erlebt. Seine Herkunft, dann New Hollywood mit Sex and Drugs, er hat Richard Gere zum Star gemacht. Aber klar, mit Sharon Stone generierst du mehr Reichweite.
Gehen wir ein paar Jahre zurück. Du warst früher Filmkritiker. Und du wusstest alles besser, wenn es darum ging, andere Festivals wie etwa Locarno und Solothurn zu beurteilen. 2015 nanntest du Solothurn «das entbehrlichste Filmfestival der Schweiz». Möchtest du dazu was sagen?
Man kritisiert bekanntlich am härtesten, was man am meisten liebt. Ich hatte Solothurn damals seit zwanzig Jahren verfolgt und Entwicklungen beobachtet, die mir nicht gefielen. Die Solothurner Filmtage sind ursprünglich aus der Gegenkultur, aus dem Protest gegen das Establishment entstanden, und waren plötzlich im hochanständigen Mainstream eingebettet. Was ich damals schrieb, war als Provokation gemeint und gab einiges zu reden. Trotzdem wäre es natürlich geheuchelt, wenn ich jetzt sagen würde, ich bin geläutert und würde sowas nie mehr schreiben. Aber ich sehe heute, wie schwierig es ist, auf der andern Seite zu stehen. Es ist viel einfacher, ein Festival zu kritisieren, als eins zu machen. Und der aktuelle Zustand des Kulturjournalismus gibt mir zu denken, es ist unglaublich, wie viel da schlicht falsch ist.
Gibt es Ausnahmen?
Ja! Die Wochenzeitung WOZ. Die hat halt ihre Haltung, aber das ist sorgfältiger seriöser Journalismus.
Wie stehst du eigentlich zu Online-Ausgaben von Filmfestivals? Locarno hat 2020 eine erfolglose Rumpfausgabe probiert, Nyon und Solothurn haben es einigermassen erfolgreich durchgeführt. War sowas fürs ZFF je eine Option?
Ich halte gar nichts davon. Im Falle von Dokumentarfilmen wie in Nyon macht das am meisten Sinn. Aber viele unserer Spielfilme sind zu gross, wir hätten den Bond niemals gekriegt, wenn wir gesagt hätten, den können jetzt alle zuhause streamen. Das haben wir auch ganz klar so kommuniziert, als es darum ging, Gelder zu erhalten. Entweder machen wir ein physisches Festival oder keins. Wir wollen ja auch die Leute zusammenbringen, Begegnungen ermöglichen und auch mal wieder eine Party machen. Im Wort Festival steckt auch das Wort Fest. Das soll auch eine festliche Note haben. Einen Film zu streamen hat nichts Festliches.
Du kritisiertest früher auch die «Eventitis», die durch Festivals etabliert werde. Nämlich, dass das Publikum sich Filme lieber anschaut, wenn auch Stars und Cüpli dazugehören. Und dass Festivals den normalen Kinos dadurch Publikum wegnehmen würden. Bedauerst du es, nun radikal auf die Seite der Eventitis gewechselt zu haben?
Es ist uns wichtig, dass sich das Interesse, den ein Film am ZFF erhält, danach auch auf seine Kinolaufbahn übersetzt. Wir begleiten unsere Filme, ich moderiere Kinostarts und mache das auch gern und gratis, wir schreiben regelmässige Newsletter, wie es «unseren» Filmen so ergangen ist. Das ZFF ist nur eine Startrampe, und da hilft natürlich etwas Glanz. Kino gehörte früher zur Jahrmarktunterhaltung. Ich hatte auch nie Probleme mit roten – oder wie in Zürich grünen Teppichen, aber das Festival soll nicht Selbstzweck sein.
Du bist Katholik. Da bringt man ja ein Flair fürs Spektakel mit sich.
Ja, das ist gut möglich. Ich bin sogar zum Katholizismus konvertiert, ich musste mir das erarbeiten. Ich komme aus einem sehr religiösen, streng protestantischen Winterthurer Elternhaus. Mein Stiefgrossvater mütterlicherseits war allerdings Katholik, ein fröhlicher, lebensbejahender Typ.
Immerhin schaute dein Vater gerne Bondfilme!
Das schon. Aber als ich als Teenager begann, mich für Film zu interessieren und in Winterthur im Kino Loge jobbte, da fragte man sich schon, ob mit dem Bub was nicht stimmt und was er da denn eigentlich immer schaut. Die Liebe zum Kino ging für mich mit meiner Emanzipation von der protestantischen Enge einher. Als ich in einer kleinen Stadt in Italien studierte, gab es da diesen Feiertag, an dem Autos gesegnet wurden. Ich fuhr einen kleinen Fiat Uno und fand es das Grösste. Mich zogen auch die Kirchen an, in denen die Bibel als Bildergeschichte auf Kirchenfenstern und Wänden erzählt wurde. Und ja, ich liebe das Festliche. Das Drumherum. Deshalb habe ich meine Dissertation auch über das Filmfestival Cannes geschrieben. Und ich bin überzeugt, dass ein roter Teppich einem Film hilft, überhaupt in die Medien zu kommen. Vielleicht sogar mal auf eine erste Seite.
In früheren Jahren sorgte ja durchaus auch das Personal des ZFF fürs Spektakel. Die kaufmännische Direktorin Nadja Schildknecht war als Ex-Model und Partnerin von Credit-Suisse-Verwaltungsratspräsident Urs Rohner ein beliebtes Motiv der People-Berichterstattung. Zumal die Credit Suisse auch Festivalsponsor war. Der künstlerische Direktor geriet da in den Hintergrund, was einigermassen einmalig ist. Wie sieht das Glamour-Potenzial bei dir und deiner kaufmännischen Direktorin Elke Mayer aus?
Elke ist eindeutig glamouröser als ich. Aber wir wollen schon zusammen auftreten. Das ist moderne Führung. Ich bin kein Feminist, das muss ich immer betonen, aber in der heutigen Zeit, wo so viele darum kämpfen müssen, überhaupt auch nur halbwegs sowas wie Parität hinzukriegen, sind wir gut aufgestellt. Ganz oben sind wir fifty-fifty, auf Kaderstufe eins haben wir einen Frauenanteil von 75 Prozent, im Programmteam arbeiten zwei Drittel Frauen. Da ist es nur angemessen, wenn wir uns gemeinsam vor das Festival stellen. Ich rede über die Filme, sie über das Geld, sie holt das Geld rein, ich geb's aus. Wir sind auch so harmonisch, dass uns die Leute bereits für ein Ehepaar halten.
In deiner Laufbahn ist das Thema Filmfestival bestimmend. Du hast deine Doktorarbeit über Cannes geschrieben und eine Biografie über den langjährigen Direktor der Berlinale Moritz de Hadeln. Du warst Feuilletonchef und Filmkritiker der «NZZ am Sonntag» und hast das Filmmagazin «Frame» geführt, das ebenfalls sehr eng mit dem ZFF verbunden ist, weil die NZZ schliesslich seit einigen Jahren Mehrheitsaktionärin des ZFFs ist. War Festivaldirektor schon immer dein Traum, oder war deine Ernennung eher Zufall, weil ein hauseigener Festivaldirektor ganz gelegen kam?
Ich träumte immer davon, mal bei einem Festival zu arbeiten, aber nicht unbedingt als Direktor. Ich fragte mich, wie es ist, in Locarno vor der Piazza-Leinwand zu stehen und auf 8000 Zuschauer runterzuschauen. Als ich meine Bücher schrieb, sagten alle, Christian, du wirst mal selbst Festivaldirektor. Ich habe nie daran geglaubt. Und eines Tages feiern meine Frau und ich Hochzeitstag und sitzen in Italien beim Essen, da kommt der Anruf mit dem Angebot. Natürlich gab es da nichts zu überlegen.
Wenn du vom Blick auf die 8000 träumst, ist dir da das ZFF nicht zu klein?
Überhaupt nicht. Das ZFF ist genau das Festival, das mir entspricht. Ich hatte ja schon immer eine grosse Liebe zum gut gemachten Mainstream. Als ich 2009 zur «NZZ am Sonntag» stiess, war ich dort der erste Journalist, der im Feuilleton über die Oscars schrieb. Ein Sakrileg, die Oscars hatten bis dahin nur im Gesellschaftsteil stattgefunden. Aber ich liebe auch die Avantgarde. Nur ist es ein schmaler Grat zwischen Avantgarde und Prätention, und die meisten fallen bei diesem Balanceakt auf der falschen Seite runter.
Trotzdem. Du bist mit 48 Jahren für einen Festivaldirektor noch ziemlich jung.
Danke!
Für einen Festivaldirektor. Möglicherweise verschlägt es dich irgendwann woandershin. Wie möchtest du Zürich in Erinnerung bleiben? Mit einem Christian-Jungen-Multiplex, einem Christian-Jungen-Platz, einem Christian-Jungen-Award? Oder einfach mit einer Vision?
Ich möchte als Anwalt fürs Kino in Erinnerung bleiben. Als einer, der auf die Harasse steigt, und die Leute fürs Kino bekehren will. Was Elke und ich beide wollen, ist, das Festival weiterzuentwickeln, inhaltlich glaubwürdiger zu machen und es wirtschaftlich wachsen zu lassen.