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Bergsturz in Brienz: «Die Häuser werden wohl nicht zerstört»

epa10623062 The village of Brienz/Brinzauls beneath the "Brienzer Rutsch", in Graubuenden, Switzerland, 12 May 2023. Two million cubic metres of rock from the mountain above the village are  ...
Über dem bünderischen Dorf Brienz braut sich nicht nur ein Gewitter zusammen.Bild: keystone

Besuch in Brienz: «Ich hätte ein ungutes Gefühl, heute hier zu übernachten»

In Brienz im Kanton Graubünden droht ein Bergsturz. Die Bewohnerinnen und Bewohner mussten bis Freitag, 18 Uhr das Dorf verlassen. Eindrücke aus einem entvölkerten Dorf.
12.05.2023, 18:5013.05.2023, 16:27
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Brienz ist mit seinen 85 Bewohnerinnen und Bewohnern wohl nie ein dynamisches Dorf gewesen, aber am Donnerstag – einen Tag vor der Evakuierung – scheint es entvölkert wie ein Freilichtmuseum ausserhalb der Öffnungszeiten. Vor den Häusern stehen kaum mehr Autos, und die, die noch da sind, werden auch bald weg sein.

Der Boden unter Brienz ist schon immer in Bewegung. Jedes Jahr rutscht er einen Meter tiefer ins Tal und nimmt das Dorf mit sich. Auch am Hang dahinter rutscht regelmässig etwas runter.

Die Bewohnerinnen und Bewohner von Brienz sind das Geräusch des Gerölls gewohnt. Sie schauen hoch, machen weiter. Und darin liegt die grösste Herausforderung: ihnen zu vermitteln, dass es anders ist als das, was sie gewohnt sind, dass sie jetzt gehen müssen.

Denn inzwischen bewegt sich der Berg schneller als das Dorf, nämlich 10 Zentimeter pro Tag. Es droht ein Bergsturz.

Seit Dienstag ist klar: Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen das Dorf bis Freitag, 18 Uhr verlassen. Ab diesem Zeitpunkt gilt nun neu die Phase Rot. Das Dorf darf nicht mehr betreten werden. Denn die «Insel» – der Bereich des Berges, der sich löst und 2 Millionen Kubikmeter beträgt – wird in den nächsten vier bis vierzehn Tagen ins Tal krachen.

Am Donnerstag, als watson vor Ort ist, ist noch Phase Orange, das heisst, das Dorf wird evakuiert und darf danach aber auf Anfrage noch betreten werden.

Brienz in Graubünden, ein Tag vor der Evakuierung, wegen Bergsturz. 11. Mai 2023.
Ein Einheimischer fährt mit Auto und Anhänger zu seinem Haus. Viele andere scheinen das Dorf bereits verlassen zu haben.Bild: waston/elena lynch

In Brienz nimmt man wenig Leben wahr. Ein Auto mit Anhänger fährt durch das Dorf. Ein Mann lädt einen Kühlschrank auf einen Pickup. Aus der Kirche kommt Gelächter, junge Restauratorinnen bauen mit Zivilschützern den 500-jährigen Flügelaltar ab und packen Statuen ein. Jemand spielt auf der Orgel.

Man sieht mehr Medienschaffende als Einheimische. Ein deutsches Fernsehteam vom SWR steht mit seinem Material beim Brunnen auf dem Dorfplatz und wartet auf Weisungen. Zwei Frauen spähen vom Rand eines Fensters oder durch eine verglaste Eingangstür auf die Strasse. Ihr Signal: Wir wollen nicht mit Medienschaffenden sprechen.

«Da hatte ich ‹huere› Mühe»

Aber es gibt Ausnahmen. Ein Einheimischer winkt aus der Ferne. Er stellt sich später als Renato Liesch vor. Bis vor Kurzem hat er im Dorf noch einen Stall saniert. Jetzt lädt er Lebensmittel auf den Beifahrersitz seines Transporters: Mehl, Zucker, Teigwaren. Er sagt: «Man weiss nicht, wie lang man weg ist.»

Liesch ist der Letzte der Familie, der sich noch in Brienz befindet. Seine Mutter ist in einer Wohnung in Alvaneu und sein Bruder und dessen Freundin in Lenzerheide. «Mein Bruder hat mich ermahnt: ‹Jetzt gehst du aber!›»

Aber vor Freitag, 18 Uhr will Liesch nicht weg.

Brienz in Graubünden ein Tag vor der Evakuierung wegen Bergsturz, 11. Mai 2023
Renato Liesch fährt am Freitag auf die Maiensäss. Wie lange er dort bleiben wird, weiss er nicht.Bild: watson/elena lynch

Liesch will auf die Maiensäss. Die liegt oberhalb des Hangs, der rutscht. Dort will er ohne Strom und Wasser auskommen und mit Gas kochen. Einige Gasflaschen seien schon oben, sagt er, die habe er vergangenen Herbst während der Jagd hochgebracht.

Jetzt muss er nur noch Bier und Zigaretten kaufen, Kanister mit Diesel füllen und Geld abheben. Wie lange er auf der Maiensäss bleiben wird, weiss er nicht.

Es gibt drei Szenarien. Das erste ist das wahrscheinlichste: Das Gestein bricht in mehreren Portionen ab und kommt dann wohl vor dem Dorf zum Stillstand. Das zweite Szenario ist, die Ware fliesst wie zäher Honig das Tal hinab und erreicht das Dorf.

Und das dritte Szenario, welches eine Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent hat, ist, es kommt alles auf einmal runter, mit bis zu 200 km/h. Liesch sagt: «Das gäbe dann so eine starke Druckwelle, dass die Häuser keine Dächer mehr hätten und der Kirchenturm auf dem Haus von meinem Onkel landen würde.»

Brienz in Graubünden, ein Tag vor der Evakuierung, wegen Bergsturz. 11. Mai 2023.
Weil sich der Boden talwärts bewegt: Der Kirchenturm in Brienz steht seit geraumer Zeit schief.Bild: waston/elena lynch

Er sagt: «Wenn es alles zusammengeschlagen hat, begrabe ich meine Erinnerungen hier und baue mir woanders eine Existenz auf. Aber dann verlasse ich das Tal und gehe ins Berner Oberland, Glarnerland, Wallis oder nach Vorarlberg. Ich könnte auch auf der anderen Seite der Kugel leben, aber Berge muss ich haben.»

Liesch hat in Brienz sein Leben verbracht. Er zeigt auf die linke Seite des Hanges. Da sei früher Wald gewesen, sagt er, da sei er früher hochgelaufen, um Steinpilze zu sammeln. Jetzt ist da nur noch graues Geröll.

Schwergetan hat er sich, als die Gemeinde die Warnstufen wechselte. Als sie sagten, «wir sind kurz vor Phase Gelb, packt eure Sachen», und wenige Tage später, «es ist Phase Orange, ihr müsst das Dorf verlassen». Er sagt: «Da hatte ich Mühe, da hatte ich ‹huere› Mühe.»

Er hat Tränen in den Augen.

«Unser Haus hat keine Risse»

Vom Dorfplatz aus fotografiert ein Mann seine Frau auf dem Balkon. Seit dreissig Jahren hätten sie diese Ferienwohnung, sagt er, aber das Haus hätten sie nie fotografiert.

Seit sie die Wohnung hätten, sagt er, poltere es da hinten am Hang. Niemand habe gross darauf geachtet, weil es immer so gewesen sei. Er sagt: «Aber jetzt führen einem die Messungen alle möglichen Wahrscheinlichkeiten vor Augen. Und das macht Angst. Ich hätte ein ungutes Gefühl, heute hier zu übernachten. Wir fahren gleich wieder ab.»

Brienz in Graubünden vor der Evakuierung wegen eines Bergsturzes. 11. Mai 2023.
Kommenden Sonntag wird sich in Brienz niemand mehr den «SonntagsBlick» holen.Bild: watson

Das ältere Paar kommt aus Bassersdorf im Kanton Zürich und ist heute «hochgekommen», um persönliche Sachen zu holen: Bilder, Schmuck und ein Wandührli.

Mehr machen sie nicht. Nicht einmal den Storm sollen sie ausmachen, sagt er, sie hätten sich extra bei der Gemeinde erkundigt, aber offenbar bleibe die Infrastruktur und das Internet an, «bis es chlöpft».

Gestern habe ihn die Versicherung angerufen, sagt er. Zunächst habe er gedacht, sie wolle ihn auffordern, alles zu zügeln, aber das Gegenteil sei eingetroffen. Er sagt: «Sie wollten wissen, ob ich ein Hotel oder Hilfe beim Transport brauche.»

Die Gebäudeversicherung greift, wenn das Haus durch plötzliche Ereignisse, wie einen Bergsturz, zu Schaden kommt, aber nicht durch langsames Rutschen, das in Brienz zu Rissen in den Fassaden führt.

Er sagt: «Unser Haus hat keinen einzigen Riss, womöglich weil es unterkellert ist und auf einer Betonplatte steht. Aber in den Medien werden immer die rissigen Fassaden gezeigt.»

Brienz in Graubünden, ein Tag vor der Evakuierung, wegen Bergsturz. 11. Mai 2023.
Das obligate Medienbild: eine rissige Wand in Brienz.Bild: waston/elena lynch

Es kommt ein Polizeiauto. Die zwei Polizisten lassen die Scheiben herunter und sagen, dass ab sofort ein Betretungsverbot gelte, alle Auswärtigen müssten das Gebiet verlassen.

Der Zürcher fragt: «Ist denn schon rot?»

Der Polizist sagt: «Nein, es ist immer noch orange. Aber es soll sich hier niemand mehr aufhalten, der hier nichts zu tun hat.»

Damit meint er Medienschaffende. Anscheinend haben manche von ihnen Bewohner beim Räumen gestört und die Restauratorinnen in der Kirche von der Arbeit abgehalten. Andere sollen wiederum von Tür zu Tür gegangen sein und geklingelt haben.

Auch eine Flugverbotszone wurde erlassen, damit die Helikopter das Dorf erreichen, falls sie es müssen, und dann nicht von Drohnen gestört werden.

Der Zürcher sagt: «Es ist gut organisiert.»

Der Polizist sagt: «Es ist vorhersehbar, da will niemand Fehler machen.»

Der Zürcher: «Und das Postauto fährt auch noch?»

Der Polizist: «Ja, man will den Leuten weiterhin ermöglichen, jederzeit zu kommen und zu gehen – zumindest bis am Freitagabend. Wir waren vorher da vorn, beim Berg, da kommt ständig Ware runter. Es ist eine Zeitbombe.»

Der andere Polizist: «Das Postauto hat wie wir eine Funkverbindung, das heisst, wir können es jederzeit zurückpfeifen, wenn sich die Lage zuspitzt.»

Das Handy des Polizisten klingelt. Er sagt am Apparat: «Wir gehen jetzt mittagessen und wenn danach noch jemand da ist, dann gibt es die saftigen Verzeigungen.» Er streckt die Zunge aus, im Scherz, und ist gleich wieder ernst: «Aber es hat nicht viele Leute hier. Ah, am Nachmittag gibt es noch eine Tour für Medienschaffende? Okay. Das werde ich so weiterleiten.»

Schimpftiraden per E-Mail

20 Medienschaffende aus drei Ländern versammeln sich auf dem Schulplatz in Tiefencastel und fahren in einem Postauto nach Brienz. Es fallen die Worte «Klassenfahrt» und «Katastrophentourismus».

Alle suchen nach der guten Geschichte und kommen am Ende mit der gleichen heim. Denn der Medienverantwortliche Christian Gartmann hat ein fixes Programm – und eine klare Anweisung. Er sagt: «Die Bewohnerinnen und Bewohner sind sehr gestresst. Sie reagieren allergisch auf eine Ansprache von Aussenstehenden, vor allem, wenn es Medienschaffende sind. Ich bitte Sie, das zu respektieren.»

Erst stehen alle am Fusse des Berges. Gartmann erklärt die Bodenbeschaffenheit, hält einen geologischen Vortrag, ohne die Diagramme, und ernennt den Hang hinter ihm zum bestüberwachten Berg in Europa.

Brienz in Graubünden ein Tag vor der Evakuierung wegen Bergsturz, 11. Mai 2023
Der Medienverantwortliche, Christian Gartmann, erklärt, warum der Hang hinter ihm rutscht. Bild: watson/elena lynch

Renato Liesch fährt mit seinem Transporter durch, auf der Ladefläche Kanister für Diesel. Er winkt, wie man es auf dem Land eben so tut: Ausgestreckter Arm, gespreizte Finger, einmal hoch, ohne wedeln.

Dann kommt der Gemeindepräsident, Daniel Albertin. Von ihm erfahren die Medienschaffenden, dass das Szenario der totalen Zerstörung des Dorfes derzeit nicht gegeben sei. Er sagt: «Sonst hätten wir auch eine Räumung angeordnet und nicht nur eine Evakuierung. Aufgrund dessen, was uns die Geologen aufgezeigt haben, gehen wir nicht davon aus, dass die Häuser zerstört werden.»

Die Bewohnerinnen und Bewohner hätten alle in unmittelbarer Nähe eine Wohnung gefunden, sagt er, und die Kinder könnten weiterhin in jene Schule gehen, die sie vor der Evakuierung besucht hätten. Ein bis drei Wochen müssten sie sicherlich wegbleiben, aber es könne auch länger sein. Zwischenzeitlich würden die Zufahrtsstrassen mit Betonelementen gesperrt und das Dorf mit Kameras überwacht, um es vor Plünderungen zu bewahren.

Brienz in Graubünden, ein Tag vor der Evakuierung, wegen Bergsturz. 11. Mai 2023.
Ob dieses Haus in ein paar Wochen noch stehen wird, weiss niemand. Es steht direkt unter dem Hang.Bild: waston/elena lynch

Dann wieder Gartmann. Er teilt den Medienschaffenden mit, dass ein Bauer gerade seine Rinder evakuiere und sie alle dabei sein könnten. Eigentlich sei die Evakuierung von Vieh erst in der Phase Rot vorgesehen. Aber Albertin sei selbst Landwirt und wisse, wie herzzerreissend es sein könne, seine Tiere zurückzulassen. Also habe er mit den Bäuerinnen und Bauern von Brienz entschieden, das Vieh früher wegzubringen.

Gartmann sagt: «Ich habe eine Schimpftirade per E-Mail erhalten, von einer Frau, die nur halbe Schlagzeile gelesen und sich dann um die Tiere gesorgt hat. Dabei haben wir immer gesagt, dass wir sie nur so lange hier behalten, wie es sicher ist.»

Die Medienschaffenden gehen als geschlossene Gruppe zum Hof am unteren Ende des Dorfes und stellen im Stall ihre Kameras auf. Das Verladen der Tiere dauert wenige Minuten.

Dann halten die Medienschaffenden der Bäuerin die Mikrofone unter die Nase. Sie steht mit dem Rücken zum Fressgitter. Und man hofft, für alle Beteiligten, dass dieser Zirkus bald vorbei ist.

Brienz in Graubünden ein Tag vor der Evakuierung wegen Bergsturz, 11. Mai 2023
Das Verladen des Viehs findet vorzeitig statt, weil die Bauern ihre Tiere nicht zurücklassen wollen.Bild: watson/elena lynch

Inzwischen haben alle Einheimischen, Medienschaffenden und Tiere das Dorf verlassen. Es ist Freitag, nach 18 Uhr. Jetzt muss sich nur noch der Berg bewegen.

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17 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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ᴉlǝqǝǝuɥɔs@Frau Schneebeli
12.05.2023 20:49registriert Juli 2020
„Alle suchen nach der guten Geschichte …“
Ihnen ist diese gelungen, liebe Elena Lynch. Durch Ihre spürbare Nähe oder Distanz zu den Betroffenen, durch Ihre zurückhaltende Unmittelbarkeit, durch Zitate und Dialoge lassen Sie uns das so authentisch miterleben, als wären wir selber dabei.
Am Ende kommen nicht alle mit der gleichen Geschichte heim. Ihre ist einzigartig. Danke.
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Capsaicine
12.05.2023 20:01registriert August 2018
Ich wünsche allen Betroffenen, Menschen und Tieren, das Allerbeste! Mögen sie bald wieder in ihre Heimat zurückkehren können!
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RaBu
12.05.2023 19:37registriert Februar 2020
Wunderbar, dass sich die Versicherungen auch von der menschlichen Seite zeigen und Hilfe anbieten. Das kenn’ ich von der Baloise.
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